»Ruto war der Scharfmacher«

Mit Kenias Vizepräsident steht erstmals ein amtierender Politiker vorm Weltstrafgericht

  • Marc Engelhardt
  • Lesedauer: 4 Min.
Ab heute muss sich der kenianische Vizepräsident William Ruto wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten. Kaum jemand in seiner Heimat bezweifelt seine Schuld. Den Prozess lehnen viele dennoch ab.

Die Täter kommen während des Mittagsgottesdienstes am Neujahrstag 2008. »Wir Männer haben geschlafen, weil wir das Dorf die ganze Nacht über bewacht hatten«, erinnert sich damals vor den noch rauchenden Überresten der Kirche der Bewohner Peter Njoroge. »Wir sind von Schreien geweckt worden und mit Macheten und Schlagstöcken zur Kirche gelaufen, aus der schwarzer Rauch aufstieg - aber es waren einfach zu viele Gegner.« 30 Menschen verbrennen bei lebendigem Leibe in der Kirche, die die Angreifer erst barrikadiert und dann angezündet haben. Die überlebenden Opfer - allesamt ethnische Kikuyu - fliehen. Es ist eine der schlimmsten Tragödien, die sich in den Wochen nach der Wahl in Kenia Ende 2007 abspielen. Am Schluss sind mehr als 1100 Menschen tot.

Für Njoroges Nachbarn Frederic Ndeche steht schon damals fest, wer für den Überfall auf die Kikuyu-Gemeinde in der Nähe von Eldoret verantwortlich ist: »William Ruto, er war der Scharfmacher, er hat die Kalenjin aufgehetzt, deren Ethnie hier die Mehrheit stellt.« Diese Ansicht vertritt auch der Internationale Strafgerichtshof, vor dem sich Ruto - seit April Kenias Vizepräsident - und der Radiomoderator Joshua Arap Sang wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Ohne Ruto hätte es die Massaker im Rift Valley nicht gegeben, so die Klageschrift.

Zahlen und Fakten Kenia

Staatenname: Republik Kenia
Staatsform: Präsidialrepublik; das Parlament besteht aus Nationalversammlung und Senat

Staatspräsident: seit April 2013 Uhuru Muigai Kenyatta
Einwohner: 41, 6 Millionen (2011)
Bevölkerung unter 25: 61,2 Prozent
Fläche: 582 646 km2

Hauptstadt: Nairobi

Offizielle Sprachen: Englisch, Kisuaheli
Ethnien: etwa 40; darunter unter anderem über 60 Prozent Bantu (davon 17 Prozent Kikuyu), 13 Prozent Kalenjin, zwei Prozent Maasai

Religion: vor allem Christen (82,5 Prozent) und Muslime (11,1 Prozent)

Lebenserwartung: Männer 61,8 Jahre; Frauen 64,8 Jahre

Bruttoinlandsprodukt: 33 621 Millionen US-Dollar (2011)
Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf: 820 US-Dollar (2011)

Auslandsverschuldung: 8400 Millionen US-Dollar (2010), das entsprach 26, 9 Prozent des BNE (nd)

 

Es ist das erste Mal, dass sich ein amtierender Vizepräsident dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) stellen muss. Präsident Uhuru Kenyatta, 2007 noch Rutos erbitterter Widersacher, soll im November folgen. Beide bestreiten ihre Schuld und betonen immer wieder, mit dem ICC kooperieren zu wollen. Doch hinter den Kulissen versuchen sie alles, um das Verfahren zu diskreditieren - mit Erfolg.

Schon im Wahlkampf gerierten sich Kenyatta und Ruto als Opfer der internationalen Justiz. Das ICC mutierte vom Gerechtigkeitsgaranten zum Unterdrücker eines unabhängigen afrikanischen Staates. John Githongo, einst oberster Korruptionsbekämpfer des Landes, nennt das eine der »brillantesten politischen Manipulationen« überhaupt. Ruto und Kenyatta hätten es so geschafft, sich innerhalb ihrer ethnischen Gruppen zu Führern mit ungekannter Macht aufzuschwingen. Dabei half, dass Kenyatta Sohn des Staatsgründers, Medienmogul und einer der reichsten Männer des Landes ist. Kenias Medien führen seit Monaten eine Kampagne gegen das ICC.

Vergangenen Donnerstag beschloss Kenias Parlament eine Resolution, die den Ausstieg aus dem ICC fordert. »Die Resolution schützt die Unabhängigkeit unseres Landes und unserer Bürger und wird Kenias Ruf rehabilitieren«, eröffnete Mehrheitsführer Aden Duale die Debatte. Das ICC gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte, setzte einer seiner Fraktionskollegen später nach. Doch die Bedeutung des Beschlusses ist unklar. Thomas Obel Hansen, Dozent für Völkerrecht an der US-Universität in Nairobi, stellt klar: Selbst ein Ausstieg hätte keine Auswirkung auf laufende Prozesse vor dem ICC.

Für Mwalimu Mati, den Direktor der angesehenen kenianischen Menschenrechtsorganisation Mars Group, ist der Beschluss schlicht ein politisches Manöver. Kenyatta und Ruto bereiteten das Land schleichend darauf vor, dem ICC die Zusammenarbeit aufzukündigen. »Die Abstimmung soll den Weg dafür ebnen, dass sie irgendwann sagen können: Das kenianische Volk, repräsentiert durch seine Abgeordneten, will mit dem ICC nichts mehr zu tun haben.« Mati kritisiert, dass die Zukunft des ganzen Landes dem politischen Überleben zweier Personen geopfert werde.

Fest steht, die Stimmung in Kenia hat sich gedreht. Heute, da die Kontrahenten von einst gemeinsam an der Spitze des Staates stehen, wollen viele Kenianer vor allem eins - die Vergangenheit hinter sich lassen. »Vor anderthalb Jahren habe ich mehr als eine Million Unterschriften zur Unterstützung des Prozesses vor dem ICC gesammelt«, bilanziert Ngunjiri Wambugu, Direktor eines kenianischen Instituts. »Heute würde ich das nicht mehr tun, und ich glaube, dass ich heute auch kaum noch 100 000 Unterschriften bekommen würde.« Wambugu kritisiert, das ICC nehme keine Rücksicht auf die Folgen, die ein Verfahren gegen die zwei höchsten Repräsentanten Kenias für das Land habe.

»Es mag sein, dass die Opfer der Unruhen keine Gerechtigkeit erfahren, und das ist ungerecht. Aber wenn wir für Gerechtigkeit kämpfen, dann könnte das den Frieden aufs Spiel setzen, den wir heute in Kenia haben«, sagt Wambugu. Es ist eine Angst, die bewusst geschürt wird. Für die Mehrheit der Kenianer, die täglich gegen die eigene Armut kämpfen, wöge ein neuer Konflikt schlimmer als jede juristische Ungerechtigkeit.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.