Messebeobachtung: Es gilt einzig das Wort
Brasiliens Schriftsteller und Dichter sind nah am Volk
Samba, Fußball, Zuckerhut und Copacabana - darauf will und kann Brasilien nicht reduziert werden, wird auf der Frankfurter Buchmesse offensichtlich. Der Pavillon des Gastlandes ist spartanisch gestaltet: Multimedia-Installationen, Videos entführen zu einer Reise durchs Land, Dichter rezitieren ihre Poeme. In leinenen Hängematten haben es sich vornehmliche junge Leute mit einem Buch bequem gemacht. Ein langer schneeweißer Lesetisch schlängelte sich durch den Raum, nachempfunden dem berühmten Boulevard im Ibirapuera Park von Sao Paulo, den der kürzlich verstorbene Architekt Oscar Niemeyer entworfen hatte. Davor gruppiert bunte Sitzkissen aus derbem Stoff, in Form von kauernden Menschen. Minimalistisch. Nichts soll ablenken vom gedruckten oder gesprochenen Wort. Hinter einer papiernen Mauer ein kleiner Saal, der Lesungen und Diskussionen mit brasilianischen Autoren vorbehalten ist.
José Miguel Wisnik, einer der bedeutendsten Erzähler des Landes, spricht über Ursprung und die Krisen der Erzählung von nationaler Identität. Teixeira Coelho präsentiert Auszüge aus der »História Natural de Ditadura«, einem eindrucksvollen essayistischen Werk über die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts in Europa und Lateinamerika. Die Psychoanalytikerin und Dichterin Maria Rita Kehl berichtet über ihre Arbeit in der Nationalen Wahrheitskommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur in Brasilien. Fernando Morais hat eine Biografie über die von den Nazis ermordete deutsche Kommunistin und Jüdin Olga Benario verfasst, die Lebensgefährtin von Luís Carlos Prestes, dem »Ritter der Hoffnung«, wie das Volk den Revolutionär und späteren Generalsekretär der KP Brasiliens nannte. Der Dichter, Songschreiber, Musiker und Theaterregisseur Chacal, Jg. 1951, angehimmelt von den jüngeren brasilianischen Poeten, wie auf der Messe mehrfach zu erleben, erzählt mit verschmitztem Lächeln, wie er und seine Mitstreiter in den 1970er und 1980er Jahren die Zensur der Junta austricksten. Ihre subversiven Gedichte fanden nicht nur hektographiert weite Verbreitung im Volk, sie prangten von T-Shirts oder wurden gar auf die nackte Haut geschrieben.
L’ art pour l’art ist ihre Sache nicht. Brasiliens Schriftsteller und Dichter leiden angesichts der Leiden ihres Volkes, geben den Stimmlosen eine Stimme, prangern Unrecht und Gewalt, Ausgrenzung und Abgrenzung an, im eigenen Land wie weltweit. »Die Berliner Mauer existiert nicht mehr, und sämtliche Titelblätter der Zeitungen haben prophezeit: Die westliche Welt wird nicht mehr dieselbe sein«, schrieb Paulo Scott. Doch die Arroganz des Westens ist ungebrochen, wie das globale Diktat des transnationalen Kapitals, das vor neuen Kriegen nicht zurückscheut.
Mehr noch freilich ist das Werk der brasilianischen Literaten und Lyriker auf das Elend vor der eigenen Haustür fokussiert. Marcal Aquino (»Flieh, und nimm die Dame mit«, Unionsverlag 2013) reflektiert die Obsessionen, einschließlich Rachegelüste, im rasenden Rhythmus moderner Metropolen. Marceino Freire widmet seine Kurzgeschichten Menschen in den dunkelsten Ecken der Straßen. Ferréz spricht von der Angst und Aussichtslosigkeit der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Ärmsten der Armen: »Von Tür zu Tür wurde um Brot gebettelt und der Stolz der Kleinen verlor sich von Tür zu Tür.«
Zu hören und zu lesen auf der Messe gleichermaßen Hymnen wie Klagelieder auf die Stadt und die Vorstadt. »Es ist die verworrene Form des Lebens, menschlich, korrupt, das brüllt und sich selbst applaudiert. Sich zujubelt und sich fälscht und sich versteckt. Und staunt.« Mário de Andrade hat die Hand am Puls der stetig wachsenden Mega-Metropolen seiner Heimat. Not, Verzweiflung und Resignation in den hierzulande gern romantisch verklärten Favelas beschreibt Lourenco Mutarelli: »Nachts tritt in dieser Gegend eine Legion an Kreaturen hervor. Wesen, bei denen es scheint, dass sie jede Menschengestalt abgelegt haben.« Patricia Melo klagt: »Kasematten. So leben wir… Zäune, Mauern, Glasscherben, hab’ ich alles in mir drin. Steine, Schlamm, Tiger in meinem Herzen.«
Brasiliens Literaten haben es verdient, hierzulande stärker zur Kenntnis genommen zu werden. Mehrfach artikulierten sie auf der Messe ihr Bedauern über zu wenig Interesse in Deutschland, während Brasilianer der deutschen Literatur stark zugeneigt sind. Das Land ist nach den USA zweitwichtigster Lizenzabnehmer Deutschlands auf dem amerikanischen Kontinent. Und das betrifft nicht nur Goethe, Schiller, Heine sondern auch Autoren der Gegenwart.
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