Vor Lampedusa: Wieder sterben viele Flüchtlinge
Schiff mit Migranten gekentert / Berichte über bis zu 50 Tote / Linkenchef Riexinger: »Ein Grenzregime, das Menschenleben fordert, muss fallen«
Rom. Inmitten der Debatte um Konsequenzen aus der Bootskatastrophe vor Lampedusa sind unweit der Unglücksstelle erneut dutzende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Mindestens 27 Menschen kamen ums Leben, als ihr überfülltes Boot 60 Seemeilen vor der Insel kenterte, wie die maltesische Regierung am Freitagabend mitteilte. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete gar von rund 50 Toten, darunter etwa zehn Kinder.
Linkenchef Bernd Riexinger zeigte sich in einer ersten Reaktion »traurig und wütend«. Der Politiker fordert, »ein Grenzregime, das Menschenleben fordert, muss fallen«. Seine parteifreundin Sevim Dagdelen sagte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, der Tod zehntausender Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen sei »kein Schicksal. Es ist das Ergebnis der mörderischen EU-Flüchtlingspolitik von Barroso bis Merkel«.
»Die Rettungsarbeiten laufen noch«, sagte der maltesische Ministerpräsident Joseph Muscat am Freitagabend. Etwa 150 Schiffbrüchige seien von einem maltesischen Schiff aufgenommen worden. Die italienische Küstenwache zog ihrerseits rund 50 Flüchtlinge aus dem Wasser und schickte wie die maltesische Seite mehrere Boote und Helikopter zur Unglücksstelle, die fast schon in libyschen Gewässern liegt.
Nach Angaben der maltesischen Marine war das Schiff in stürmischer See gekentert, als sich die Flüchtlinge an einem Ende des Bootes versammelten, um ein Militärflugzeug auf sich aufmerksam zu machen. Per Satellitentelefon konnten sie einen Notruf absetzen. Die nächtlichen Rettungsarbeiten wurden jedoch durch starke Winde erschwert, wie ein Marinesprecher erklärte.
EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström dankte beiden Mittelmeerländern für ihr rasches Eingreifen und erklärte, sie verfolge die Ereignisse »mit Trauer und Sorge«. »Diese neuen Dramen geschehen, während wir noch die schockierenden Bilder der Tragödie von Lampedusa in unseren Köpfen haben«, fügte sie hinzu.
Bei dem vorherigen Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel waren am Donnerstag vergangener Woche mehr als 300 Asylsuchende aus Afrika ums Leben gekommen. Nur 155 der geschätzt rund 500 Bootsinsassen konnten gerettet werden. Seit dem Unglück wird in der EU heftig über die europäische Flüchtlingspolitik diskutiert.
»Italien und Malta können mit diesem Problem nicht allein gelassen werden«, sagte Muscat nach einem Telefonat mit dem italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta, der seinerseits von einer »dramatischen Bestätigung des Notstands« sprach. Beide Länder fordern mehr Unterstützung bei der Bewältigung des Flüchtlingsansturms, stehen aber auch in der Kritik wegen ihres Umgangs mit den Hilfesuchenden.
»Wenn ein Boot kentert, darf es keine Rolle spielen, ob ein Land mit den Flüchtlingen überfordert ist«, sagte der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok dem Nachrichtenmagazin »Focus« laut Vorabmeldung. »Die Rettung der Menschen muss im Vordergrund stehen.« Brok forderte zudem einen »fairen Verteilungsschlüssel«, mit dem Flüchtlinge von den EU-Ländern aufgenommen werden sollen.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung kritisierte die Bedingungen für Flüchtlinge auf Lampedusa scharf. »Das ist menschenunwürdig, das entspricht nicht den europäischen Standards«, sagte Maria Böhmer (CDU) der »Rheinischen Post«. Italien müsse dringend nachbessern. Bei seinem Besuch auf Lampedusa war am Dienstag auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso von Aktivisten und Anwohnern ausgebuht und beschimpft worden.
Derweil hat die Polizei am Freitag zehn afrikanische Flüchtlinge, die über die italienische Insel Lampedusa nach Hamburg kamen, in Gewahrsam genommen. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, kontrollierten 50 Polizisten am Morgen zwölf Menschen in den Stadtteilen St. Georg und St. Pauli. Zwei konnten sich ausweisen, zehn wurden mit auf die Wache genommen, wo Polizisten sie fotografierten und ihnen Fingerabdrücke abnahmen. Die Flüchtlinge hätten sich friedlich verhalten. Die zehn Afrikaner wurden nach Angaben der Innenbehörde danach zur Ausländerbehörde gebracht, deren Mitarbeitern sie ihre Fluchtgeschichte erzählen sollen.
Gegen die Festnahme protestierten am Freitagabend mehr als 500 Menschen in Hamburg. Die Demonstranten zogen von Altona nach St. Pauli und machten auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam. Agenturen/nd
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