Der Essay sei das Gericht. Aber nicht das Urteil werde zum Wesentlichen an ihm, sondern der Prozess des Richtens selber. So notiert der junge Georg Lukács 1910 in Florenz. Später wird er diese (zu) früh erreichte ästhetische Vollendung wieder zerstören, weil er die absolute Ohnmacht der Kunst der Wirklichkeit gegenüber nicht erträgt; er eine andere Wirklichkeit als die absterbende für sich erträumt. Da geht er den gleichen Weg einer sich schnell entwertenden politischen Bedeutsamkeit entgegen, auf den sich auch Heinrich Mann begibt - anders als sein Bruder Thomas, der das bürgerliche Korsett eben darum anbehält, weil für ihn die Kunst sonst nicht lebbar erscheint.
Klaus Bellin durchschreitet in seinen Literaturkritiken, die alle im oben beschriebenen Sinne Essays sind, den Kreis von ohnmächtiger Kunst und machtvoller Wirklichkeit. Aber wer so intensiv auf Dichtung blickt wie Bellin, der gewinnt andere Maßstäbe: Da ist weder die Kunst ohnmächtig, noch die Wirklichkeit machtvoll. In diesen »Augenblicken der Literatur« öffnen sich Zwischenräume, die zu beschreiben eine lebenslange Übung bleibt. Ein subtiles Leseabenteuer. Denn hinter jedem Text verbirgt sich eine Biografie, die sich gleichsam schreibend maskiert. Brachial und unergiebig wäre nun, die Maske einfach herabzureißen (Entlarvung!). Aber weil es nun mal kein zufälliger Zusammenhang ist, wie jemand schreibt und wie er lebt, darum verschwindet die Frage nach dem Autor nie vollständig hinter seinen Werken. Klaus Bellin ist ein feinsinniger - und feinfühliger - Deuter dieses komplizierten Zusammenhangs von Leben und Werk. Dass es diesen Zusammenhang gibt (was von moderner Germanistik häufig bestritten wird), daran hat Bellin aus gutem Grund keinen Zweifel. Denn in seinen hier versammelten Texten wird Zwiesprache gehalten. Die Welt-Erfahrung des Lesers trifft auf die eines Autors - aber nur dem passionierten Leser antwortet der Text.
Bellin ist ein Goethetyp nach dem Geschmack Thomas Manns: Er glaubt an Metamorphosen, die im Text beginnen und als Geistfunken Leben verändern. Nur wenn man etwas von sich mit hineinnimmt in den Text, dann beginnt er zu leben. Dieser Kritiker ist ein Liebender, jedesmal als Leser begeistert oder enttäuscht - ohne den Rückzugsort lauer Objektivität, die sich die Zumutung der Dichtung vom Leib hält. So entstehen Text- und Lebensdeutungen, die subjektive Annäherungen bleiben und die ihre Bedeutsamkeit dadurch erlangen, dass sie sich darüber Rechenschaft geben. Also nicht trotz, sondern wegen der eigenen Emphase gelingen differenzierte Bilder.
Wenn Bellin die Thomas-Mann-Biografie Klaus Harpprechts liest, dann ärgert er sich über den schulmeisternden Hang des Biografen, der sich ständig bemüht, gegen Manns bestenfalls ironisch zu nennendes Amerika-Bild anzupolemisieren und eigene moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Ein Biograf als beflissener Musterschüler, der nicht mit den - vermeintlichen - Schattenseiten seines Gegenstandes identifiziert werden will? Das befremdet Bellin. Das ist ihm zu klein gedacht und eng gefühlt. Aber gleichzeitig ist er souverän genug, die Vorzüge dieses Autors zu bemerken: Harpprecht entgehe »aller Sprödigkeit und Langeweile, weil er sich von den Bücherstapeln, durch die er sich kämpfen musste, nicht unterkriegen ließ«. Gerechtigkeit des Urteils kommt hier aus innerer Anteilnahme. Denn Bellin fällt keine Urteilssprüche, die ihn jemals unbeteiligt erscheinen lassen. Ist das nun antiquiert? So antiquiert wie jede Avantgarde, die für die Wiedereinsetzung geistiger Kraft zum Souverän der Kultur streitet.
Die ideale Verbindung zwischen Geistigem und Sinnlichem, sie wird hier zur Chiffre, die Autor und Leser verbindet. Man sucht immer, man erwartet von jedem neuen Buch etwas für sein Leben. Nicht jedes Buch hält diesem Anspruch stand. Und nicht zufällig spannt sich darum hier der Bogen von Goethe zu Thomas und Heinrich Mann, zu Hesse, Benn und Becher, zu Uwe Johnson, Hans Mayer und Franz Fühmann. Keine bloß verstreuten Rezensionen, sondern Bausteine eines großen Essays, die um die immer gleiche Frage kreisen: In welchem Verhältnis steht die Dichtung zum Leben? - Leben wie Dichtung aber existieren nicht im geschichtsfreien Raum; echte Dichtung zeichnet aus, dass sie trotz und gegen Politik eine eigene Form behauptet.
Den größten Raum nehmen die Manns in diesen »Augenblicken der Literatur« ein. Ihre Familiengeschichte ist eine Jahrhundertgeschichte. Der homoerotische Dichter bringt es auf immerhin sechs Kinder, die ihm zum Selbstbeweis seiner bürgerlichen Existenz dienen. Nur die Erst- und die Letztgeborenen, Erika und Elisabeth, sind glückliche, sich geliebt fühlende Kinder; die anderen haben ein schwieriges Verhältnis zum Vater. In Dienst gestellt für den Großschriftsteller aber werden sie alle, besonders Erikas Mitarbeit ist am Ende unverzichtbar. Sie bringt das Kunststück fertig, die Schiller-Rede von 125 auf 20 Seiten zu kürzen - ohne sich ihres Vaters Zorn zuzuziehen. Golo dagegen bleibt ein vom Vater ungeliebtes und missachtetes Kind. Und als sich Klaus Mann, der sich anders als der Vater zu seiner Homoerotik bekannte, 1949 in Cannes das Leben nimmt, wird von der ganzen Mann-Familie (Thomas Mann ist gerade in Stockholm) nur der jüngste Bruder Michael zur Beisetzung reisen. Alltägliche Abgründe tun sich da auf. In ihnen wächst jener schöne Schein, der uns verzaubert.
Klaus Bellin zeigt uns in virtuoser Unmittelbarkeit die oft verborgenen tragischen Punkte im Dichterleben, die der Dichtung erst ihr Gewicht geben. Ein Buch über Dichter und Dichtung, geschrieben, damit »die Ignoranten nicht das letzte Wort haben«. Dieser Anspruch, den er an Hans Mayer so bewunderte, er wird nun in jedem seiner eigenen Texte spürbar.
Klaus Bellin: Augenblicke der Literatur. Trafo. 302 S., brosch., 24,80 EUR.
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