Lauf, Mascha, lauf!

Das Berliner Maxim Gorki Theater startet neu unter Shermin Langhoffs Leitung

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die letzte Regie-Arbeit von Thomas Langhoff, dem verstorbenen Schwiegervater der neuen Gorki-Intendantin Shermin Langhoff, war am Berliner Ensemble Tschechows »Kirschgarten« gewesen. Ein Stück, das ihm besonders am Herzen lag - aber dessen Inszenierung doch nur halb gelang. Nur Jürgen Holtz als am Ende von der abreisenden Gesellschaft im abgeschlossenen Haus vergessener Diener Firs prägte sich ein, weil in seinem Spiel etwas von jenem Wahnsinn aufschien, den alle um ihn herum für Normalität hielten. Kürzlich inszenierte Stephan Kimmig den »Kirschgarten« am Deutschen Theater. Auch dieser Versuch gelang eher nicht. Was ist es, das gerade an diesem Tschechow-Stück so schwer zu machen ist? Diese »Komödie« ist vielleicht das traurigste und bitterste Stück, das Tschechow je schrieb. Mit Firs stirbt die letzte Hoffnung. Danach kommt nur noch Beckett.

Wie spielt man den Übergang von einem alten Zustand, der nicht gut war, zu einem neuen, der noch weniger gut zu werden verspricht? Was ist bloß los mit den Menschen, wohin sind all ihre Träume, ihre drängenden Sehnsüchte, ihre Wut? Der Übergang in etwas Ungewisses ist auch das Thema hier am neuen Gorki Theater. Wo ist Heimat, wenn mir überall alles immer fremder wird? Darum kreisen die ersten Inszenierungen dieses Herbstes - bis hin zu dem Versuch von Lukas Langhoff, Mitte Dezember aus heutiger Sicht Volker Brauns »Übergangsgesellschaft« zu lesen, fünfundzwanzig Jahre nach der Uraufführung an diesem Hause. Allerdings, so heißt es, wolle er nicht den - zugegeben schwierig-dialektischen - Text inszenieren, sondern etwas damit machen, das in die Zeit passt. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich da jemand leichter machen will, als es ist.

Und da liegt das Problem des neuen jungen »postmigrantischen« Gorki-Theaters. Neukölln und Kreuzberg erobern das Staatstheater? Nein, wer sperrige Radikalität erwartete, die neue ästhetische Wege geht, wird erst einmal enttäuscht. Shermin Langhoff geht auf Nummer sicher. Konsens ist angesagt, Unterhaltungsrevue mit Kieztheater-Aroma. Am Ende ist alles immer nur eine Frage des guten Willens auf dem Boden der Sozialdemokratie? So wirken zumindest die ersten beiden Inszenierungen von Tschechows »Kirschgarten« in der Regie von Nurkan Erpulat, dem jungen Deutschtürken, der am Ballhaus Naunynstraße mit seiner Inszenierung von »Verrücktes Blut« für Furore gesorgt hatte, und von »Der ist Russe ist einer, der Birken liebt« in der Regie von Yael Ronen.

Erpulats Anspruch ist es, den »letzten Heimatabend einer Gesellschaft vor dem Ausverkauf« zu zeigen. Klingt erst einmal nicht schlecht. Doch leider zeigt er dann wenig Lust, in Tschechow mehr als eine Projektionsfläche zu sehen. Texte beim Wort zu nehmen, ob Tschechow oder Volker Baun, scheint out. Die Regie holt nicht aus dem Stück heraus, was in ihm zur Problematik von Identität, Heimat und Erbe bereits enthalten ist, sie macht das Schlimmste, was man einem so aktuellen Autor wie Tschechow antun kann: Sie aktualisiert, und das nicht einmal besonders geschickt. Ein chorisches Leitmotiv zieht sich durch den Abend, das Lied: »Am Brunnen vor dem Tore«. So vermischen sich deutsche Unter- und türkische Obertöne, jedoch auf allzu naiv-plakative Weise.

Erstes Bild: Eine schwarz verschleierte Frau tritt zu dem in der Bühnenmitte stehenden Klavier. Was und wie sie dann spielt, passt wenig zu ihrem unsinnlichen Habitus - aber auch das wird sich im Fortgang der kommenden gut zwei Stunden ändern. Was Erpulat hier als Irritationselement einsetzt, erweist sich jedoch schnell als affirmativ. Der bunte »Kirschgarten«-Reigen ist fraglos gefällig bis zur Comedy, nur eines ist es ganz sicher nicht: Tschechow aufschließend. Jede Inszenierung eine Multi-Kulti-Party? Das wäre in der Gorki-Theater-Nachfolge von Armin Petras allzu wenig.

Es ist dann Taner Sahintürk, jener Darsteller des Kaufmanns Lopachin, der am stärksten klischeebeladen antritt (als schmierig grimmassierender Underdog) und sich dann am energischsten von allen Klischees befreit. Lopachin, bei Tschechow die Zukunft sowohl des gesunden Selbsterhaltungstriebs wie auch des schnöd kalkulierenden Kapitalismus verkörpernd, kauft den Garten der aus Paris zurückgekehrten, aber nicht wirklich heimkehrenden Ranjewskaja (überzeugend in ihrer emotionalen Abwesenheit: Ruth Reinecke). Er ist jener soziale Aufsteiger, den niemand mag - weder die alten Eliten, die im Dunkel der Melancholie versinken, noch jene anderen Randgruppen, die weiter Randgruppen bleiben, für die sich niemand interessiert, erst recht nicht die neuen Aufsteiger.

Nein, es wäre falsche Sozialromantik, es nicht zu sehen: Die neuen Aufsteiger sind noch härter, noch kälter als jene Absteiger, die sich ihrer Konkurrenz nicht gewachsen zeigten. Sahintürk spielt das mit einem Furor, der Abgründe offenlegt, wo man sie nicht vermutete. Seine Abschweifungen führen ins Zentrum, legen jenen eigenen Erfahrungskern des Spielers bloß, ohne den jeder »Kirschgarten« bloßes Kunstgewerbe bliebe. Nie habe er den richtigen Ton getroffen, nur die kleinen Rollen am Theater bekommen und dann immer die Frage: Können Sie nicht auch mit Akzent sprechen?!

Lopachin, das ist der einzige im ganzen »Kirschgarten«-Personal (neben Firs), der kein Wegläufer ist, der eher noch den Garten abholzt und das Land in eine Appartementsiedlung verwandelt, als sich von hier vertreiben zu lassen. Das ist der Typus, der das Neuland unter den Pflug nimmt und die Erinnerungen an früher gleich mit. Ein Held des Pragmatismus oder ein gedächtnisloser Barbar? Die Frage wird zumindest angerissen. Das Ensemble: durchaus in Aufbruchstimmung, wenn auch noch alles andere als eingespielt (aber das kann noch kommen). Es macht bereits Spaß, einer Schauspielerin wie Marleen Lohse als Ranjewskajas Tochter Anja in ihrer jugendlich vibrierenden und zugleich schon nervös-schwächlichen Lebensunruhe zuzusehen.

Gleiches gilt für Anastasia Gubareva als Mascha in der zweiten Inszenierung des Eröffnungswochenendes: »Der Russe ist einer, der Birken liebt« nach dem Roman von Olga Grjasnowa. Eine Überlebenskünstlerin nicht aus Übermut, sondern aus purer Überlebensnot. Ihr Leben pendelt zwischen Baku, Berlin und Tel Aviv. Sie weiß nur, was sie alles nicht ist. Ihre Leben besteht aus lauter Negationen - Heimat? Wo das nächste Pogrom ist, vielleicht. Auch sie ist auf der Flucht, aber wovor genau, das weiß sie nicht, vielleicht vor jenen falschen Eindeutigkeiten, aus denen die Welt gemacht zu sein scheint. Sie hat allzu viel Ballast in ihrem Leben bereits abgeworfen: »Erinnerungen sind irreführend.«

Was nun noch kommt, ist absurd. Elias (Knut Berger), ihr Freund, ist im Krankenhaus nach einem Unfall beim Fußball gestorben. An so etwas kann man in diesem Lande sterben? Das ist beinahe schon lächerlich angesichts ihrer Gewalterfahrungen aus Baku. Das Prinzip der launig Tempo machenden Inszenierung von Yael Ronen rund um einen liegenden Birkenstamm (Bühne: Magda Willi) erinnert an Tom Tykwers »Lola rennt«. »Lauf, Mascha, lauf« so rufen sie an diesem offenkundig - wie schon der »Kirschgarten« - ganz auf jugendliche Zuschauer zugeschnittenen Abend.

Ja, Mascha läuft so schnell sie kann, aber wohin, das ist am Gorki Theater derzeit noch nicht zu sagen.

Nächste Vorstellungen - »Der Russe ist einer, der Birken liebt«: 20.11.; »Der Kirschgarten«: 4.12.

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