- Kultur
- Politisches Buch
Am Ufer der Zeit oder: Das Spiel ist aus
Stephen Emmott malt eine düstere Zukunftsvision - ein Requiem auf die Menschheit
Es ist vorbei. Das Spiel ist aus. Freilich, vielleicht reicht es noch bis zur Jahrhundertwende. Aber schon da müssten wir heute alle zu Robinson Crusoe oder Henry David Thoreau zurückkehren, der Konsumtyrannei abschwören, die Kapitalverhältnisse zerbrechen, den ökologischen Fußabdruck auf tierische Dimension zurückführen, in kürzester Zeit völlig neue Kulturtechniken hervorbringen. Nein, es ist zu spät. Denn: Erstens machen satte Sklaven keine Revolution, und zweitens geht es um das Gesetz der großen Zahl, um exponentielle Entwicklungen in Natur und Gesellschaft. Aber der Mensch denkt linear, er ist ein planetarer Mörder, der nur sein kurzfristiges Überleben im Fokus hat.
Dies jedenfalls meint der britische Wissenschaftler Stephen Emmott. Ohne fachwissenschaftliches Vokabular zu bemühen, wuchtet er Satz für Satz einfachste Fakten übereinander, Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelindustrie, Klimaerwärmung, Konsumverhalten, Energiesituation, irdische Ressourcen, den gesamten verheerenden Reproduktionsprozess der heutigen Zivilisation.
Emmotts Buch ist das Requiem auf unsere Spezies, die vor 200 000 Jahren auf den Plan trat und nun mit über sieben Milliarden an der Zahl am Ende ihrer Zeit ist. Das Neue dieser Edition ist, dass ohne ideologische Scheuklappen oder wirtschaftspolitische Rücksichten erstmals ein aktuelles und jedermann verständliches Bild vom sterbenden Lebensraum Erde gezeichnet wird. Die Kausalketten seiner Erkenntnisse liegen offen, sind unverschlüsselte Botschaften und radikale Weckrufe an die gegenwärtig lebenden Generationen. Die referierten Daten zeigen: In vielerlei Hinsicht sind die Kipp-Punkte des komplexen Systems unseres Planeten bereits erreicht. Die points of no return allerdings werden von der politischen Klasse geschickt verschwiegen. Auf Nebenschauplätzen tobt sich in Parlamenten und Marionettentheatern der Kampf um die Fleischtöpfe aus. Emmott dokumentiert kühl und souverän, wie die Menschen Werkzeuge ihrer Werkzeuge geworden sind, nur noch dem fragwürdigen Wert des Geldes verhaftet.
Der Autor, wissenschaftlicher Leiter eines Microsoft-Labors für globale Forschungsprojekte und Professor für rechnergestützte Naturwissenschaften in Oxford, hält sich nicht mit Illusionen oder fragwürdigen Heils- und Rettungsplänen auf. Auch weiß er, dass es für die Hochrechnungen unserer absteigenden Lebenskurve »kein genaues Datum« gibt. Aber im kosmischen Maß sind einige Jahrzehnte nur ein Wimpernschlag. Da unser soziales und kulturelles Immunsystem bereits zusammengebrochen ist, eine kollektive Intelligenz dem Konsum des Irrsinns und Nutzlosen geopfert wird, die Medienmaschine jegliches Unterscheidungsvermögen im Boulevard erstickt, bleibt in diesem Buch kein Raum für Hoffnung.
Menschliche Artefakte ersetzen das Leben und entfernen den einzelnen von jeglicher Aktion. Statt den Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, brillieren Parteien mit Nebelraketen und Programmen endloser Expansion. Weil in der Natur Wachstum und Zerfall beziehungsweise Kontraktion gesetzmäßig ablaufen (Lebensräume sind nicht zeitlos), kann Emmott auf Lösungen oder Aufrufe zum Paradigmenwechsel verzichten. Es geht ja auch nur darum, die Menschheitsspanne etwas weiter in die Zukunft zu dehnen. Das sei möglich, meint der Autor, wenn wir »irgendetwas Radikales tun«. Was ist radikal? Nichts kann so bleiben wie es ist. Der Störfaktor im Regelkreis Erde ist der Mensch. Mithin ist er in seiner heutigen Verfassung zu neutralisieren.
Fazit: Stephen Emmotts Botschaft ist nicht neu, nur die aktuelle Brisanz der Agonie und die zusammenhängende Darstellung in einfachster Sprache machen den nachhaltigen Gewinn. Karl Marx wurde 1856 zu einem Bankett der Londoner Wochenzeitung »The People’s Paper« geladen. Dort sagte er: »In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen … Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter … All unser Erfinden und Fortschritt läuft darauf hinaus, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.«
Das ist potenziert der Stand der Dinge, wie sie ein Jahrhundert später Denis L. Meadows vorfand, der im Auftrag des Club of Rome 1972 die Studie »Die Grenzen des Wachstums« erarbeitete. Sein Resultat: Noch vor dem Jahr 2100 wird die Weltwirtschaft wegen Nahrungsmittelknappheit, Überbevölkerung, Umweltzerstörung und Rohstoffkrise zusammenbrechen. Der Brundtland-Bericht - im Auftrag der UNO von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 vorgelegt - zielte auf Generationengerechtigkeit und ganzheitliche Verhaltensänderung. Rio de Janeiro 1992 nahm dies in seine Agenda 21 auf, der Club of Rome konstatierte 1993, dass »die zeitgenössischen Demokratien keine Sachwalter langfristiger Lebensinteressen« sind. Schlaue Deklarationen der Weltgemeinschaft folgten - ohne Erfolg bis heute. Al Gore reiste um die Welt, der Star unter den Mikrobiologen, Frank Fenner aus Australien, prophezeite das Aussterben der Menschheit wegen Bevölkerungsexplosion bis 2100. Um nur einige zu nennen. Der Gorbatschow-Faktor sowie der folgende Systembruch 1990 und der Pyrrhussieg des internationalen Wirtschafts- und Finanzkapitals haben das Tempo auf dem Weg in die Endzeit erheblich stimuliert.
Was bleibt nach Emmotts Lektüre? Die Aufhebung der Dialektik unseres Seins? Denn erstmals bestimmt das Bewusstsein das Fortbestehen des Seins auf diesem Planeten für die letzte Etappe der Geschichte. Hedonismus, Anarchie, Krieg oder Verzweiflung stehen zur Diskussion. Kreativität, Besinnung, fern von aller religiösen oder nationalen Verblendung, und Revolution auch. Im Stück »Die Physiker« von Dürrenmatt heißt es: »Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.«
Stephen Emmott, Zehn Milliarden. Suhrkamp Verlag. 206 S., geb., 14,95 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.