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Treten gegen das Dunkel

Katie Mitchell inszenierte Duncan Macmillans Zweipersonenstück »Atmen« an der Schaubühne Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Theater als Spiegel der Welt? Das ist so neu nicht, aber wie es Katie Mitchell hier an der Berliner Schaubühne mit Duncan Macmillans Zweipersonenstück »Atmen« auf die Bühne bringt, ist es tatsächlich auf überraschende Weise neu. Zwei Schauspieler auf zwei Podesten mit zwei Fahrrädern, die fünfundsiebzig Minuten in Bewegung gehalten werden wollen - weil hier sonst das Licht ausgeht. Per Dynamo erzeugt die Inszenierung sich ihren Strom selbst, assistiert von vier weiteren Hometrainern am Rande. Sie liefern den Strom für die Tontechnik.

Eine ökologische Sumpfblüte, abseitige Marotte, die sich zeitgeistig allzu wichtig nimmt? Wer die Britin Katie Mitchell kennt, weiß, naive Wir-retten-die-Welt-Szenarien sind ihre Sache nicht. Die Bühne (Chloe Lamford) spielt mit, sogar zunehmend schweißtreibend. Doch bleiben wir noch bei den technischen Daten. Rückversetzt ins Zeitalter der Hand- und Fußarbeit wird unsere schöne technische stromfressende Welt plötzlich sehr anschaubar. Die beiden Schauspieler erzeugen während der Vorstellung zusammen 217,5 Wattstunden Energie, das reicht für insgesamt vier Halogenlampen. Mehr Licht geben die Beine nicht her.

Die Bühne korrespondiert so auf wunderbare Weise mit dem, worüber Christoph Gawenda und Lucy Wirth hier die ganze Zeit debattieren: über sich selbst als Paar, Sinn wie Unsinn, in diese überbevölkerte Welt noch Kinder zu setzen. Normalerweise lösen derart wohlstandsübersättigte Oberseminardebatten über den »CO2-Abdruck«, den ein Mensch im Laufe seine Lebens hinterlässt, Fluchtimpulse aus - doch dieser Abend fasziniert trotz (oder gerade wegen) seiner eingeschränkten Spielmöglichkeiten.

»Atmen« wird tatsächlich zum Spiegel unserer überaus künstlichen Existenz. Selbst der Wunsch, wieder naturgemäß zu leben, erscheint dabei wie ein Ausdruck von Entfremdung. Einfache Lösungen gibt es nicht, das wissen diese beiden da auf ihren Fahrrädern, die lauter Ermüdungs- und Vermeidungsdebatten führen. Beide blicken sich nie an, immer nur geradeaus, denn eigentlich sind sie mit der stromerzeugenden Tretarbeit vollkommenen ausgelastet. Doch jetzt bleibt ihr erstmals fast die Luft weg, denn er hat ihr wie nebenbei eine Frage gestellt, die sie völlig aus der Fassung bringt. Sie müsste sich jetzt eigentlich setzen, oder besser noch hinlegen, vielleicht auch sich übergeben oder besser noch sofort ihren Therapeuten anrufen. Was ist geschehen? Er hat sie, die Doktorandin, die ständig mit Zahlen über »CO2-Fußabdrücke« jongliert, gefragt, ob sie nicht ein Kind haben wollten. Einfach so, ganz direkt. Aber genau von solcher Direktheit fühlt sie sich überfordert. Wenn diese Welt eines nicht brauche, dann noch mehr Menschen, weiß er das nicht?

Und was ist mit ihnen beiden? Wenn nun alle diejenigen, die so verantwortungsvoll denken wie sie, keine Kinder mehr bekommen, aber die anderen dafür um so mehr? Das sei doch rein genetisch betrachtet fatal. Er wisse, das klinge jetzt fast schon faschistoid. Aber fände sie es denn nicht schön, wenn sie gemeinsam Eltern werden? Das ist der heikle Punkt.

Und so kreist der Diskurs, und die Zuschauer kreisen mit. Es entsteht das Porträt einer Generation um die dreißig, die einerseits alle Freiheiten und Möglichkeiten hat, aber andererseits so unentschlossen ist wie kaum eine zuvor. Denn auf manche Dinge im Leben kann man sich noch so lange vorbereiten, Bücher lesen, Workshops besuchen - sie passieren dann doch meist ganz anders und machen erstaunlich hilflos. Es ist jene Generation Praktikum, die alles über die ökologische Weltsituation weiß, unablässig die eigenen Befindlichkeiten thematisiert, aber unfähig ist, einen anderen Menschen längere Zeit auszuhalten. In unserem »Moderne als Selbstverwirklichung«-Projekt, das selbst in seinen alternativen Spielarten immer ein Erleichterungsprojekt geblieben ist, kommen unablässig zur Unzeit schreiende Kinder nun mal nicht vor.

Atmen ist unsere elementare Art, Innen und Außen zu verbinden. Am leichtesten fließt der Atem, wenn man nicht darüber nachdenkt, dass man atmet, auch nicht, wie man umweltgerechter und zugleich karriereförderlicher atmen könne. Aber eben in diesem altruistisch-egoistischen Widerspruch, Weltgewissen zu sein und gleichzeitig möglichst bald einmal aus eigener Kraft, von der eigenen Arbeit leben können, steckt die Generation Praktikum fest.

Ein minimalistischer Abend, der ganz von den beiden Schauspielern Christoph Gawenda und Lucy Wirth lebt, genauer: von ihren Stimmen. Unter den unablässigen Redestrom mischt sich das Summen der Dynamos, ohne deren Betrieb wir hier im Dunkeln säßen. Mitchell unternimmt mit dieser exzentrischen Inszenierung den Versuch, zu einer Ästhetik zu kommen, die sich aus eigenen Quellen speist. Diese - allerdings überaus raffinierte - Einfachheit scheint auch heilsam für die Regisseurin selbst zu sein, die in ihren bisherigen Arbeiten an der Schaubühne (»Fräulein Julie«, »Die gelbe Tapete«) die Bühne in hochkomplexe Filmsets verwandelte, so dass wir die Schauspieler fast nur noch auf der Leinwand als Videoprojektion erlebten. Sie hier nun so leibhaftig schwitzen zu sehen, wie sie den ganzen Theaterbetrieb buchstäblich selbst am Laufen halten, das ist auf lustvolle Weise erhellend.

Nächste Vorstellung: 7.1.

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