»Im Realitätsasyl«
Was Kindern schadet, entscheidet oft der Zeitgeist. Früher, als es bloß Erwachsene in klein waren, haben schon Sechsjährige gearbeitet und zum Frühstück gab’s Bier. Bis vor kurzem dann rauchte Vati fröhlich in ihrem Zimmer voller Spielzeug mit Kanten, Giften, Gefahrenherden. Und heute? Ist die Kindheit vollkaskoversichert, aber nachmittags läuft im Fernsehen »Harry Potter«.
Dabei gerät die magische Saga mit jeder Adaption ein bisschen mehr zur Horrorfilmreihe. In HD-Qualität jagen grausige Monster durch dunkle Gewölbe. Stets droht den blutjungen Hauptfiguren der Tod. Und dann die Sache mit dem Okkultismus: Im Grunde, klagen Kritiker, gehöre der Achtteiler ins Nachtprogramm. Ausstrahlung ab 22 Uhr also, wenn empfindsame Kinderseelen schlafen. Wenn die Öffentlich-Rechtlichen ihre skandinavischen Krimis zeigen und die Privaten ihre Gewalt- oder Sexexzesse. Wenn der »Tatort« läuft.
Moment – der »Tatort«?
Zum ersten Mal in 43 Jahren zeigt das Erste sein Flaggschiff nicht nach der »Tagesschau«. Eine Sensation! Auch ein Skandal? »Nein«, betont Gebhard Henke, der als Fernsehfilmchef des WDR die 890. Episode verantwortet. Sie heißt »Franziska« und macht die Assistentin der Kölner Kommissare Ballauf und Schenk zur Hauptfigur, die Hinnerk Schönemann als verurteilter Mörder im Keller des Knastes gefangen hält. Es ist ein beängstigendes Kammerspiel, das weniger durch Brutalität, gar Blutdurst verstört, als durchs unentrinnbare Gefühl der Ausweglosigkeit.
Weil diese Atmosphäre, wie Henke einräumt, »nicht durch Schnitte im Film hätte verringert werden können«, hat sich seine Redaktion »nach intensiver Debatte« mit dem eigenen Jugendschutzbeauftragten für den späteren Anstoß entschieden. »Und zwar einvernehmlich«. Damit dürfte sich der Vorgang vom ersten Fall derartiger Selbstzensur unterscheiden. Als der WDR-Film »Wut« 2006 verlegt wurde, hagelte es Proteste gegen das Realitätsasyl. Immerhin thematisiert das Drama ein aktuelles Thema, von dem die geschützte Zielgruppe explizit betroffen ist: Jugendgewalt.
Dabei bleibt vage, warum es »Wut« und »Franziska« erwischt hat, aber keinen der 42 anderen »Tatorte« 2013 mit ihren 76 Toten. Die Verhandlungen laufen intern, beteiligte Jugendschützer schweigen, das Procedere ist intransparent. Dennoch belegen ganze drei Verschiebungen in der ARD-Historie inklusive des Münchner »Polizeirufs« vor zwei Jahren auch: das Prinzip Selbstkontrolle greift. Besser zumindest als bei der kommerziellen Konkurrenz.
Ob deren Angebot die Jugend gefährdet, untersucht der unabhängige Verein Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) – und wird dabei fast unablässig fündig. Seit 1994, rechnet die Leiterin der Programmprüfung Claudia Mikat vor, hat die FSF sage und schreibe 2684 spätere Sendezeiten verfügt. Und während es bei 3155 Sendungen Schnittauflagen gab, wurden 255 gleich ganz indiziert.
So wird dann schon mal »Mission Impossible« vom Nachmittag gestrichen oder »Alien« vom Hauptabend. Doch es sind mitnichten bloß Agententhriller, Horrorfilme oder Softpornos, die der Primetime entzogen werden. Auf Grundlage des Staatsvertrags zum Jugendmedienschutz moniert die zuständige Kommission der Landesmedienanstalten auch vermeintlich harmlose Unerhaltung wie »Joko & Klaas«. Deren Mutproben verleiten angehende Teenager aus KJM-Sicht so zum Nachahmen, dass sie erst nach 20 Uhr laufen dürften. Ähnlich verhält es sich mit Reality-TV à la »We love Lloret«, wo Frauen von männlichen Rolemodels zu willigen Sexobjekten degradiert werden.
Im neuen Kölner »Tatort« wird niemand degradiert. Der Fall des kidnappenden Häftlings ist geschlechtsneutral und zutiefst artifiziell. Sich freiwillig gegen die übliche Zuschauerzahl nahe zehn Millionen zu entscheiden, zeugt da von vorauseilendem Gehorsam, der den Privatsendern zutiefst wesensfremd scheint. Dort läuft die kleine Horrorshow Harry Potter weiter fleißig nach dem Mittagessen, entschärft nur durch ein paar geschickte Cuts.
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