Mit den Händen denken

Wie Kinder im HELLEUM in Berlin-Hellersdorf nachhaltig lernen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Wind verrichtet Arbeit. Emily und Franzi erfahren das, als der Ventilator die Windmühle dreht und sich dabei ein Faden abwickelt.
Wind verrichtet Arbeit. Emily und Franzi erfahren das, als der Ventilator die Windmühle dreht und sich dabei ein Faden abwickelt.

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung besitzt der Ostberliner Stadtteil Hellersdorf Preziosen, um die er beneidet wird, sogar weltweit. Eine davon ist das Kinderforscherzentrum HELLEUM in der Kastanienallee - wofür die Silben, aus denen sich der Name HELLEUM zusammensetzt, stehen, können Sie selbst herausfinden. Sie dürfen, Sie müssen nicht. Es macht aber Spaß, versuchen Sie es.

Darum, etwas selbst herauszufinden und auf diese Weise zu lernen, geht es auch im HELLEUM. An einem Winterferientag haben sich Kinder der Klassenstufen drei bis fünf und ihre Erzieherinnen aus der Kaulsdorfer Ulmen-Grundschule eingeladen. Die Mädchen und Jungen sind ganz bei der Sache, lebhaft und klug: So etwas gibt es.

Dass die Kinder, die sich auf Kissen im Kreis niedergelassen haben, derart freudvoll mitarbeiten, liegt freilich auch an den Kindheitspädagogen Klaus Trebeß und Andreas Hörster. Die beiden kriegen sie. Alle. Von der ersten Minute an. An diesem Vormittag geht es um Türme. Im Hintergrund wirft ein Beamer stimmungsvolle Variationen an die Wand: Sonnenblumen, Kerzen, Sandsteinfelsen, Kirchtürme, Burgen, Leuchttürme, den schiefen Turm von Pisa, Strommasten ... Wer war schon mal auf einem Turm? Es stellt sich heraus, fast alle: auf dem Fernsehturm, der Festung Königsstein, zwei sogar auf dem Eiffelturm - sieh an.

Was kann man auf diesen Türmen machen? Über die ganze Stadt gucken. Was muss ein Turm können, damit er ein Turm ist? Er darf nicht so dick wie ein ganzes Haus, sollte also eher dünn sein und aus speziellen Baumaterialien bestehen. Welche Materialien können das sein? Den Kindern fällt vieles ein: Metall, Holz, Stein, Stahl, Beton. Auch aus Knete, Plastik und Eis - das wurde gerade im Fernsehen gezeigt. Woraus kann ein Turm nicht bestehen? Aus flüssigem Wasser, Luft oder Wolken, nicht aus Schlamm (Oder doch? Es gibt Kleckerburgen), nicht aus Lebewesen (Oder doch? Es gibt »Räuberleitern«), bestimmt nicht aus Käse (den würden die Leute gleich aufessen), nicht aus losem Zucker, Honig, Licht.

Warum heißt der Fernsehturm Fernsehturm? Wie seid ihr, als ihr dort wart, hochgekommen? Musstet ihr lange anstehen? Wie könnte es schneller gehen? Andreas Hörster hält nun das aus zwei leeren Backpapierkartons gebastelte Modell eines Turms in T-Form in die Runde. Der Fuß des Turmes ist geneigt, Rolltreppen könnten installiert werden. Auf Rolltreppen, sagt Andreas Hörster, könnten Besucher viel schneller nach oben- und wieder hinuntergleiten. Aber, wendet ein Kind ein, was machen Rollstuhlfahrer und Mütter mit Kinderwagen? Für sie, schlägt ein anderes Kind vor, könnte zwischen den Rolltreppen ein Fußweg hinauf- und hinabführen. Hörster will nun wissen, ob der geneigte Turm, wenn er ihn denn losließe, stehen bliebe oder umkippen würde: Die Kinder dürfen abstimmen. Jubel bei den Optimisten, als der Turm aufrecht stehen bleibt. Hörster wird die Freude dämpfen. Nach den Gesetzen der Statik hätte der Turm selbstverständlich umfallen müssen. Warum bleibt er trotzdem stehen? Welcher Trick wurde angewandt? Richtig: Eine Seite des T-Trägers wurde innen mit ein paar Schrauben beschwert, so dass die Balance gewahrt bleibt.

Kinderkram? Wunderbarer Kinderkram! Eine ganze Stunde lang waren die Schüler hochkonzentriert. Sie suchten und fanden Lösungen. Nun dürfen sie auch noch selbst Türme bauen: Vorbereitet sind Stationen - hier sagt man lieber »Lernbeete« - , an denen »Baumaterial« bereit liegt: Erbsen und Zahnstocher, Knete und Schaschlikspieße, Plastikbecher, Würfelzucker, 1-Cent-Stücke, Platten aus Bienenwachs. Als Vivians und Simons Turm aus zusammengerollten Wachsplatten zu wanken beginnt, stabilisieren sie ihn, indem sie ihm einen Kern aus Holz geben. Pauline, die aus einem Schaschlikspieß einen Fernsehturm mit schwerer Kugel aus Knete modelliert, weiß, dass er einen Sockel braucht, der ihm Stand gibt - sie entscheidet sich schließlich dafür, ihren Turm auf drei Beine zu stellen. Die Erzieherinnen Katrin Wockatz und Ulrike Baumann sind begeistert: »Man muss sich bloß zu helfen wissen. Die Kinder können hier so lange probieren, bis sie’s hinkriegen. Und die ganzen Materialien stellt man kostenlos zur Verfügung.«

Es ist das Prinzip der Lernwerkstattarbeit, das praktiziert wird. Für das HELLEUM umgesetzt hat es Prof. Dr. Hartmut Wedekind von der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Zwei Wörter liebe man hier gar nicht: »erklären« und »vermitteln«, sagt Wedekind. »Wir vertrauen auf die Lernfähigkeit von Kindern, versuchen nicht, sie zu indoktrinieren.« Wenn Wedekind akademisch wird, spricht er von »Bildungsoptimismus«: »Die Kinder erleben hier Phänomene. Wir erklären sie nicht, denn Kinder verfügen über eine natürliche Neugier. Es gibt kein Kind, dass nicht das Bedürfnis hat, dahinterzukommen.« Anders ausgedrückt: Im HELLEUM setzt man nicht auf Frontalunterricht, sondern darauf, dass Kinder mittels Erfahrung besser lernen als aus dem Lehrbuch - auf das Prinzip der »denkenden Hände«. Wedekind spricht auch von »nachhaltigem Lernen«: Es bleibt mehr hängen.

Seine wissenschaftliche Laufbahn begann der Pädagoge am Lehrerbildungsinstitut in Berlin-Hohenschönhausen. Schon dort hat er sich mit der individuellen Förderung von Kindern beschäftigt und dazu promoviert. Als das Institut nach der Wiedervereinigung abgewickelt wurde, lernte er im Westteil Berlins das reformpädagogische Konzept der Freinet-Pädagogik kennen, das ihn inspirierte. 1992 konnte er das Konzept an der Humboldt-Universität etablieren, und nach Gastprofessuren in Kassel und Halle wurde er 2010 als Professor an die Alice-Salomon-Hochschule geholt: Er sollte im Bereich der Ausbildung von Kindheitspädagogen unter anderem eine naturwissenschaftliche Lernwerkstatt aufbauen. Das tat er - mit großem Erfolg. Worauf das Quartiersmanagement Hellersdorfer Promenade mit dem Wunsch an ihn herantrat, auch für den Stadtteil ein Konzept für eine Lernwerkstatt zu entwickeln. »Was dann passierte«, sagt Wedekind, »davon hätte ich nie zu träumen gewagt.« Passiert ist Folgendes: Viele Leute engagierten sich, aquirierten Geld aus vielen Töpfen. »900 000 Euro eröffneten uns die Möglichkeit, das pädagogische Konzept auf der grünen Wiese zu materialisieren. Ein Haus wurde geplant und gebaut, das die Philosophie der Lernwerkstatt ausdrückt.« Wie das?

Wedekind, wissenschaftlicher Leiter des HELLEUMS, zeigt es uns. Entstanden sei ein Lernraum, der Kindern Möglichkeiten bietet, über das Explorieren eigene Ideen zu entwickeln. Ein großer, freundlicher Raum mit viel Holz und Oberlicht, in dem man sich wohlfühlt und der flexibel umgebaut werden kann, zum Beispiel mit den schon genannten Lernbeeten. Ein Raum, in dem alles sichtbar ist, von den Leitungen, die zu den Lampen führen, bis zu den vielfältigen Materialien, mit denen gebaut und experimentiert wird - Knöpfe, Kastanien, Überraschungseihülsen, Kronkorken, Wäscheklammern, Federn und weitere Alltagsgegenstände. »Bei uns finden Sie keine Laborgeräte«, sagt Wedekind, »wir machen Küchenphysik. Hier stehen keine Kinder in weißen Kitteln herum, die eine Erzieherin bewundern, wenn ihr ein Experiment gelingt.«

Nicht nur deutschland-, sondern europaweit sei das HELLEUM ein einzigartiges Modell der frühen naturwissenschaftlichen Bildung. Seit seiner Eröffnung im Januar 2013 hätten es fast 7000 Kinder, 1000 Erwachsene und 200 internationale Gäste besucht. Erst kürzlich seien hier im Rahmen einer Fachtagung Hochschulexperten aus Deutschland und der Schweiz zusammengekommen, »da haben 40 Erwachsene eine Stunde lang gespielt wie die Kaputten«.

Die Geschäfte führt Olga Theisselmann. Ihr zur Seite steht ein Team von fünfzehn Pädagogen, einschließlich studentischer Mitarbeiter. Entsprechend der Philosophie des Hauses nennt man sie hier nicht Lehrer, sondern Lernbegleiter. Das Engagement dieses Teams wird hochgeschätzt, dank seiner funktioniert das Modell. Das Gebäude wird getragen vom Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, weitere Kooperationspartner sind die Senatsschulverwaltung, das Quartiersmanagement Hellersdorfer Promenade und die Alice Salomon Hochschule. Zu den Förderern gehören die TSB Technologiestiftung Berlin und die Deutsche Bundesstifung Umwelt.

Letztere fördert im HELLEUM das zweijährige Projekt »Naturwissenschaftlich-technische Umweltbildung«. Angeboten werden die Workshops »Wasser marsch!«, »Wind bringt's«, »Müll macht’s«, »Luft lüften!«, »Boden schätzen« und »Sonne satt«. Die Kinder sollen dabei Kompetenzen erwerben, die sie in die Lage versetzen, einmal eine nachhaltige Entwicklung zu gestalten - eine Wirtschafts- und Lebensform, die dafür sorgt, dass künftige Generationen keine schlechteren Lebensmöglichkeiten vorfinden als ihre eigene. Dafür werden Menschen gebraucht, die sich selbst vertrauen und Verantwortung übernehmen, die fachkundig mit komplexen Sachverhalten umgehen können.

Claudia Berend von der Beatrix-Potter-Grundschule gönnt ihren Erst- und Zweitklässlern heute den Workshop »Wind bringt’s«. Lernbegleiter Roberto Menk fragt: »Was habt ihr mit Wind alles schon erlebt?« und: Womit kann man hier drinnen Wind machen? Mit dem Föhn, dem Ventilator, mit Gebläsen. Und sonst? Man kann pusten oder wedeln. Dann los! Die Kinder erobern die Stationen. Es wird windig im HELLEUM. Mit einem improvisierten Generator erzeugen sie Strom und Licht. Sie pusten Schiffe über ein mit Wasser gefülltes Becken in der Wasserlandschaft. Eine Tüte wird wie ein Fallschirm aufgeblasen. Per Föhn werden Styroporkügelchen durch den Windkanal gejagt. Wie stark ist der Wind? Wie wird aus Strom Licht? Am Ende wissen es die Kinder.

»Die Angebote hier sind sehr gefragt«, erzählt Klassenlehrerin Claudia Berend, »wenn im Internet Termine freigeschaltet werden, stürzen sich gleich alle drauf. Einen zu kriegen, ist wie ein Sechser im Lotto.« Sie hat es trotzdem geschafft, mit ihrer Klasse fast alle Workshops zu besuchen, fehlt nur noch »Wasser marsch!« Claudia Berend sagt: »Dann sind wir leider schon durch. Wiederkommen werden wir trotzdem.«

Offene Forschernachmittage gibt es montags von 16.30 bis 18 Uhr und mittwochs von 14.30 bis 18 Uhr.

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