Zwei Welten und dazwischen ein Tor

Stefan Bachmann ist tatsächlich ein Wunderkind und sein Roman »Die Seltsamen« ist ein großartiges Zauberspektakel

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Kindergesicht blickt einen aus der Vorschau des Diogenes-Verlags an. Der Autor ist gerade mal zwanzig, aber er sieht weit jünger aus. Dabei ist Stefan Bachmann schon seit seinem elften Lebensjahr Student am Züricher Konservatorium, wo er inzwischen Orgel und Komposition studiert. Er hat einen Schweizer Vater und eine amerikanische Mutter, die ihn bis zum Highschool-Abschluss zu Hause unterrichtet hat. Und er hat, wie jetzt bekannt wird, seit seinem zwölften Lebensjahr schon vier Bücher geschrieben.

Das vorliegende entstand, als er 16 war. Mit der US-Ausgabe hat er nach seinen Aussagen schon Tantiemen im höheren sechsstelligen Bereich verdient. Im Interview spricht er von 90 Prozent Arbeit und 10 Prozent Talent. Er habe »einfach hart gearbeitet«. Ein Wunderkind? Es wird wohl so sein.

So funktionieren die Vermarktungsmaschinen, dass sie einen erst einmal neugierig machen. Später dann, wenn der Autor schon einen Namen hat, kann man auf eine Fan-Gemeinde zählen, die durch Weitersagen immer größer wird. HarperCollins, New York, und Diogenes, Zürich, könnten auf einen Erfolg à la »Harry Potter« spekulieren. Wenn sie ihr Marketing klug darauf ausrichten und etwas investieren, werden sie ihn auch bekommen. Ein Autor, jung, bescheiden, strebsam, ein Buch, so vollgestopft mit fantastischen Einfällen, dass es geradezu danach ruft, farbenprächtig verfilmt zu werden - und weitere Editionen werden folgen. Was soll da noch schief gehen?

Man denkt ja auch gleich an »Harry Potter«, wenn man die ersten Seiten liest. Aber nein, Stefan Bachmann nennt andere Vorbilder für sein Schreiben: Charles Dickens und C. S. Lewis’ »Chroniken von Narnia«. Vor allem aber sei er durch seine Liebe zum »Steampunk« inspiriert. Wer noch nicht weiß, was das ist, wird es beim Lesen empfinden: ein seltsames Gemisch aus Vergangenheit und Zukunft, eine Art Retro-Futurismus, der die Gegenwart sozusagen in zwei Richtungen transzendiert.

Man kann in Stefan Bachmanns Fantasy-Roman natürlich Konstellationen der heutigen Welt finden: skrupellosen Machtgebrauch, der vor Mord nicht zurückschreckt, die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, wobei die Armen hier tatsächlich die Elenden sind. Ausgebeutete, Ausgegrenzte. Gegenwärtige Konflikte in potenzierter Form, genauer gesagt, von ihren Wuzeln her betrachtet, weil das Buch im viktorianischen England handelt. Aber eben doch nicht ganz, denn all die wundersamen Apparate, die sich Stefan Bachmann vorstellt, waren damals Zukunftsmusik.

Und im Computerzeitalter sind sie überholt, ohne dass es sie je gegeben hätte. In einer auf Effizienz getrimmten Wirtschaft ist das Interesse am Wundersamen bestenfalls ein spielerisches. Es ist eine Sehnsucht im Buch, die man wohl verstehen kann - gegen das rational Durchkonzipierte in einer Realität, wo nur die nackte Zahlung gilt, gegen das Genormte, das Immergleiche, Langweilige, Banale. Stefan Bachmann ist ja nur ein Nachfolger all derer, die ihre Vorstellungen von Parallelwelten in die Literatur gebracht haben. Bei ihm ist es das Feenreich, das normalerweise von der Menschenwelt getrennt ist. Es sei denn, ein »Tor« öffnet sich. Das sei vor Zeiten schon einmal geschehen, erfahren wir im Prolog. Schwarze Federn seien vom Himmel gefallen, und von einem Moment auf den anderen sei die Stadt Bath verschwunden gewesen.

»Die Feen suchten England heim.« Das sind hier aber keine hilfreichen Wesen in flatternden Gewändern. Das ist wirklich etwas völlig anderes, das auf die Menschen keine Rücksicht nimmt. Und diese ebenso wenig auf sie, auf die Kobolde und Satyrn, auf die Gnome und Irrwische und was es sonst noch alles an Geisterwesen gibt.

Mit Kanonen wurden sie zusammengeschossen, die Überlebenden wurden getauft und zur Arbeit in den Fabriken gezwungen. »Sie hausten in englischen Städten und husteten englischen Qualm.« Aber sie hatten ihren eigenen Adel, die »Hochelfen«, die Sidhe. Die finden sich mit der Unterdrückung nicht ab.

Darum geht es: um Widerstand, wobei das Gute nicht einfach auf Seiten der Sidhe ist und auch auf Seiten der Christenmenschen nicht. »Die Seltsamen« heißt das Buch - »The Peculiar« - das sind Mischwesen, die von beiden Seiten dermaßen angefeindet werden, dass sie sich nicht auf die Straße trauen, weil sie ihres Lebens nicht sicher wären. Eingesperrt in ihre elende Bleibe sind Bartholomew Kettle und seine Schwester Hettie. Der Vater, ein Sidhe, hatte das Weite gesucht, die Menschenmutter ist zum Verhungern arm. Vor dem Haus gegenüber erscheint eine schöne Dame in einer Robe aus pflaumenfarbenem Samt und lockt einen Mischlingsjungen mit sich fort. Es geht die Rede, dass Leichen solcher Kinder in der Themse gefunden werden, leer, ohne innere Organe ....

Grusel und Spannung. Für junge Leser ab zwölf hat der Autor sein Buch gedacht. Wetten, dass auch Erwachsene daran Freude haben? Der besondere Reiz ist nämlich jene »Steampunk-Ästhetik«, die Stefan Bachmann so opulent in Szene setzt, dass man alles genau vor sich zu sehen meint. Der mechanische Vogel auf dem Titelbild - in der Originalausgabe noch viel schöner - ist nur eines von vielen technischen Wunderwerken. Apparate aus Messing, viktorianische Gewänder und Kutschen, die von Grashüpfern gezogen werden, man staunt immer wieder, wie selbstverständlich das - und noch viel, viel mehr - in der Wirklichkeit dieses Romans zusammengehört. Vor dem Vogel fliegt ein gefangener Luftgeist die Routen ab, der Vogel selbst landet dann bei einer alten Grünhexe ...

Was für ein Zauberspektakel. Mittendrin Bartholomew, der seine Schwester finden will, die inzwischen auch entführt worden ist, und ein junger Parlamentsabgeordneter namens Arthur Jelliby. Ein Adliger, nicht besonders klug und nicht besonders mutig, aber ihm bleibt nichts anderes übrig, als so zu werden, weil ihn jene vornehme Dame um Hilfe bat und weil er es nicht hinnehmen kann, dass Kinder getötet werden. Er hat einen Verdacht - und kommt selbst in Gefahr. Nur ein Detail: Man stelle sich vor, dass ein Haus verzaubert ist, dass die Dielen, das Bett, die Möbel, alle Gegenstände darin plötzlich gegen ihren Besitzer revoltieren ...

Fremdenhass, Gewalt, Unterdrückung, Rachegelüste - dagegen das humane Gewissen und der Konflikt, vor dem Bartholomew schließlich steht: seine Schwester retten und dafür den Untergang der ganzen Stadt, der ganzen Welt gar, in Kauf nehmen? Das Ende des Romans ist nur ein vorläufiges, was für den Moment enttäuschen, aber dann auch erfreuen kann. Für den zweiten Teil, »The Whatnot«, ist als Erscheinungstermin der 24. September festgelegt. Auf Youtube macht Stefan Bachmann schon mal dafür Reklame und sieht dabei ein bisschen wie ein blonder Harry Potter aus.

Stefan Bachmann: Die Seltsamen. A. d. Am. v. Hannes Riffel. Diogenes. 367 S., geb., 16,90 €.

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