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Zarte Melancholie
Kim Thúy: Kriegserinnerungen, Heimatsehnsüchte und die Küche Vietnams
»Der Geschmack der Sehnsucht« mag als Titel auf den ersten Blick auf eine kitschige Liebesschnulze hindeuten. Auf den zweiten Blick ist der kanadisch-vietnamesischen Autorin Kim Thúy mit ihrem nur 144 Seiten starken Büchlein ein großartiger Roman mit Tiefgang gelungen.
Aromatischer Gewürzduft, aufblitzende Kriegserinnerungen und eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Heimat - aus diesen Fäden webt Kim Thúy eine wunderschöne Geschichte, deren emotionale Tiefe sich in kleinen Randbemerkungen und quasi beiläufig erzählten Episoden erschließt.
Fernab dramatischer Gesten entspinnt sich so ein melancholisch-zartes Gewebe um Liebe und Verzicht und die Wunden, die ein Krieg über Generationen hinweg schlägt. Bereits auf den ersten Seiten ist der Leser davon gepackt.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Vietnamesin Mãn. Geboren in den Wirren des Bürgerkriegs, findet sie bei ihrer dritten »Mutter«, einer Lehrerin, zum ersten Mal im Leben ein Zuhause. Doch »Mama« gibt ihr nicht nur Zuneigung und ein Dach über dem Kopf. Bei der abendlichen Lektüre verbotener Literatur der früheren Kolonialherren lehrt sie das Mädchen die französische Sprache und lässt sie beim täglichen Kochen an den Geheimnissen der vietnamesischen Küche teilhaben.
Beides kommt Mãn als Erwachsene zugute. Denn ihre Mutter schickt sie nach Kanada, wo sie eine arrangierte Ehe mit einem älteren emigrierten Vietnamesen eingeht. Zuerst ist ihr alles fremd in Montreal, sie erlebt das neue Land und dessen Bewohner nur von der Suppenküche ihres Mannes aus.
Dann jedoch beginnt sie langsam, ihre Gefühle und Erinnerungen an Vietnam, seine Regionen und Dörfer mit bestimmten Aromen und Gerichten zu verbinden und sorgt mit ihren kulinarischen Kreationen nicht nur für großen Zulauf im Lokal, sondern vergrößert allmählich auch ihren Aktionsradius. Dabei hilft ihr die kanadische Freundin Julie, die es behutsam versteht, das Selbstbewusstsein der jungen Frau zu stärken. So entwickelt sich Mãn mehr und mehr zur Berühmtheit in der Gastro-Szene, die Kurse abhält, eigene Kochbücher schreibt, und schließlich sogar auf internationalem Parkett agiert. Auch ihr privates Leben wirkt wie ein langsamer ruhiger Fluss der stillen Zufriedenheit: Mit ihrem Mann verbindet sie eine respektvoll-distanzierte Beziehung; ihre beiden Kinder werden von der Mutter mitbetreut, die schließlich nach Kanada gefolgt ist. Alles verläuft geradezu mühelos. Doch nicht nur Mãn, auch der Leser ahnt, dass dies nicht von Dauer ist.
Zu sehr sind die Protagonisten vom Krieg und ihrer persönlichen Geschichte geprägt, als dass ihnen ein leichtherziges, ungetrübtes Glück möglich wäre. Da ist die Mutter, die auf ihre große Liebe im Krieg verzichtete, der Ehemann, der nachts von Träumen mit Bildern aus der Kindheit gequält wird, und Mãn selbst, die sich erinnert, wie ihre Mutter sie einst bei Fremden zurückließ, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Ein Wendepunkt in Mãns Leben wird die unerwartete Begegnung mit einem Fremden, der ihr zeigt, dass nicht nur leise Zufriedenheit, sondern auch innige, leidenschaftliche Liebe zum Leben dazugehören könnte …
Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht. Roman. A. d. Franz. v. Andrea Alvermann u. Brigitte Große. Kunstmann Verlag. 160 S., geb., 16,95 €.
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