Todesursache ungeklärt
In Nordrhein-Westfalen wird seit dem vergangenen Jahr gegen eine Hebamme wegen Totschlags verhandelt / Ein Urteil ist nicht in Sicht
Momentan schlägt die Debatte um das drohende Ende des Hebammenberufs aufgrund immens steigender Versicherungszahlungen hohe Wellen. Wenig beachtet blieb dabei bisher der Fall der praktischen Ärztin und Geburtshelferin Anna R. Wegen des bisher ungeklärten Todesfalles eines Säuglings unter ihrer Betreuung steht sie seit August 2012 in Dortmund vor Gericht. Die Anklage lautet auf Totschlag, ein entsprechendes Urteil könnte eine Haftstrafe von bis zu fünfzehn Jahren nach sich ziehen. Weltweit ist kein ähnlicher Fall bekannt, üblich in solchen Fällen ist eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung.
Heute findet der 42. Prozesstermin vor dem Dortmunder Landgericht statt. Die Verfahrenslänge gründet auf medizinischen Spezialdetails, es streiten mehrere Gutachter um die Einschätzung des Sachverhalts und um die Schuldfrage, die wie auch sonst in der gesamten Diskussion je nach beruflichem Hintergrund und Geschlecht sehr unterschiedlich eingeschätzt werden.
Anna R. ist dreifache Mutter. Seit 1978 übt sie den Beruf der Hebamme aus, seit 1985 den der Ärztin. Seitdem begleitete sie ca. 2000 Geburten und wurde als Spezialistin für Beckenendlagen von Hebammen häufig in solchen Fällen hinzugezogen.
So kam es auch zu dem Kontakt zu den deutschen Eltern des am 30.06.2008 verstorbenen Babys Greta. Diese waren extra aus Riga nach Deutschland gekommen, um einen Kaiserschnitt zu vermeiden, zu dem ihnen in Lettland geraten worden war. In einem Hotel warteten sie auf den Geburtstermin. Anna R. fuhr dann in das Hotel, da die Mutter aufgrund heftiger Wehen nicht mehr transportfähig war. Das Baby kam um 22.14 Uhr leblos auf die Welt, weshalb Anna R. sofort mit der Reanimation begann. Der herbeigerufene Anästhesist übernahm diese nach seinem Eintreffen, schloss das Kind an ein EKG an, beendete die Animation jedoch bereits nach 26 Minuten. Die freiberufliche Hebamme Claudia Kummert, die das Verfahren von Anfang an beobachtet, schätzt das als zu kurz ein: »45 Minuten sind Standard«. Der ebenfalls herbeigerufene Facharzt für Neugeborenenmedizin erschien zwar mit Spezialequipment, wurde aber vor der Hotelzimmertür vom Anästhesisten informiert, dass das Baby nicht mehr lebe und er wieder fahren könne. Hier stellt sich für Kummert die Frage, warum die bisherige Befragung der beiden Fachärzte für diese ohne weitere Konsequenzen blieb. Die Angeklagte selbst war aufgrund des laufenden Verfahrens zu keiner Stellungnahme bereit.
Eine dramatische Wende nahm der ohnehin schon ungewöhnliche Prozess am 5. September 2013, als Anna R. wegen Verdunkelungsgefahr im Gerichtsaal in Haft genommen wurde, in der sie für knapp fünf Wochen blieb. Anlass hierfür war, dass ihre Gutachterin Helga Göcke angegeben hatte, Gewebeproben an Organen des Kindes untersucht zu haben. Daraufhin wurde erstmals richtig beachtet, dass noch Organe des Kindes existierten, dessen Leiche eingeäschert worden war. Der Fakt war im Verfahren jedoch bereits bekannt gewesen. Anna R. hatte die Organe mit Einwilligung der Eltern vor der Einäscherung entnommen und aufbewahrt. Zum Vorwurf, Anna R. habe Beweise unterschlagen wollen, meint Marc Sendowski, einer der drei Verteidiger: »Es ist genau umgekehrt: Es gäbe diese Organe ohne meine Mandantin heute gar nicht mehr. Es sollte damals darum gehen, die genaue Todesursache zu ermitteln. Die Untersuchungshaft ist deshalb wie eine vorgezogene Bestrafung.«
Hintergrund ist die Tatsache, dass noch dreißig Jahre nach dem Tod eines Kindes die jeweils begleitende Fachperson angeklagt werden kann. Wird die Leiche des Kindes gänzlich eingeäschert, kann keine medizinische Nachuntersuchung zur Klärung erfolgen.
Die Länge des Verfahrens ist offen - bereits 2013 sollte ein Urteil gefällt werden. Ein Jahr zuvor wurde Anna R. die Approbation entzogen, als Folge ihre Privatpraxis geschlossen, in der sie gleichzeitig als Ärztin und Geburtshelferin gearbeitet hatte. Ihre berufliche Existenz war somit nach 34 Jahren beendet. Angesichts der Tatsache, dass Mediziner sowie Hebammen spontane Beckenendlagengeburten aufgrund mangelnder Kenntnisse vielfach nicht mehr durchführen können, und die Kaiserschnittrate im Bundesdurchschnitt 2012 bei 32 Prozent lag, bedauernswerte Konsequenz eines Todesfalls, wie er auch in Kliniken jederzeit vorkommen kann.
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