Unteilbare Welt
Martin Mosebach: Souverän helles Erzählen - über Abgründen
Blick in eine deutsche Großstadt und zugleich ins bergdörfliche Bosnien, kurz vor Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien. Der Ich-Erzähler (dem der Autor aber mitunter die Stimmregie über den Roman abnimmt) ist ein unbeschäftigter Kunsthistoriker, der plötzlich doch einen Auftrag erhielt: eine Ausstellung des jugoslawischen Bildhauers Metrovic zu kuratieren. Der Auftraggeber ist Wereschnikow, unsympathische Intelligenz- und Kongressplanungs-Schickeria. Und besagter Metrovic ist verwandt mit jener in Deutschland arbeitenden Putzfrau Ivana, der wichtigsten Gestalt des Romans.
Zum Gemütsbedrängenden des Buches steigert sich der Kontrast: Da ist diese fettige, faselnde, fatal egozentrische und geradezu frenetisch selbstbezogene Wohlstandswelt jener deutschen Bürger, in deren Häusern Ivana arbeitet - und da ist deren tragisches Los, das ihr die Familie raubt, das Selbstwertgefühl und natürlich die Achtung vor jenem Land, in dem sie ihren Billiglohn verdienen muss. Dieses Deutschland ist eine Welt des maklerischen Parasitentums, der reklamesüchtigen Oberflächenpirouetten, der moralfreien Freiheitspraktiken. Die Eitelkeit einer Glätte, an der jeder Ernst abrutscht, jede Gesittung, jede ethische Verabredung.
Nominierungen Belletristik
Saša Stanišić: »Vor dem Fest« (Luchterhand)
Die Jury: »Ein Roman als furioser Chorgesang in Prosa.«
Katja Petrowskaja: »Vielleicht Esther« (Suhrkamp)
Die Jury: »Ungeschützt, listenreich, suggestiv«.
Per Leo: »Flut und Boden. Roman einer Familie« (Klett-Cotta)
Die Jury: Hineingearbeitet »in die dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit«.
Martin Mosebach: »Das Blutbuchenfest« (Carl Hanser)
Die Jury: »Eine Romanfigur von unerhörtem, unvergesslichem Eigensinn weiblicher Natur.«
Fabian Hischmann: »Am Ende schmeißen wir mit Gold« (Berlin)
Die Jury: »Selbstbewusst und souverän im Ton.«
Nominierungen Sachbuch
Diedrich Diederichsen: »Über Pop-Musik« (Kiepenheuer & Witsch)
Die Jury: »Pop galt bislang als ästhetische Unterkategorie. Nun nicht mehr.«
Jürgen Kaube: »Max Weber« (Rowohlt Berlin)
Die Jury: »Eine luzide erzählte Gesellschaftsgeschichte über den Aufbruch Deutschlands in die industrielle Moderne.«
Helmut Lethen: »Der Schatten des Fotografen« (Rowohlt Berlin)
Die Jury: »Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, Technik und Theorie der Fotografie, Erinnerungen an die eigene Kindheit«, verwoben zu einem nachdenklichen Essay.
Barbara Vinken: »Angezogen« (Klett-Cotta)
Die Jury: Wer sich auf ihren »erhellenden Blick auf die Mode einlässt, erkennt statt rasant wechselnder Trends langlebige Strukturen«.
Roger Willemsen: »Das hohe Haus« (S. Fischer)
Die Jury: Als »teilnehmender Beobachter, einfacher Bürger und reflektierender Intellektueller« auf der Besuchertribüne des Bundestags.
Nominierungen Übersetzungen
Paul Berf für »Spielen« von Karl Ove Knausgard (Luchterhand)
Die Jury: »Den exzessiven Schreibansatz des norwegischen Autors arbeitet er ebenso heraus wie seinen Detailreichtum.«
Robin Detje für »Europe Central« von William T. Vollmann (Suhrkamp)
Die Jury: »Die Vielstimmigkeit« dieses großen Romans »über Revolution, Krieg und Terror im 20. Jahrhundert« ins Deutsche gebracht.
Ursula Gräfe für »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« von Haruki Murakami (DuMont)
Die Jury: »Das Abgründige wird leicht und das Leichte abgründig.«
Hinrich Schmidt-Henkel für »Jacques der Fatalist und sein Herr« von Denis Diderot (Matthes & Seitz)
Die Jury: »Eine geglückte Anverwandlung des Originals, die mit dem Witz und Esprit der Vorlage auf Augenhöhe bleibt«.
Ernest Wichner für »Buch des Flüsterns« von Varujan Vosganian (Paul Zsolnay)
Die Jury: Er »erschließt uns das blutig-pittoreske Epos eines versprengten Volkes - der Armenier in Rumänien«.
Das Elend oben, das Elend unten. Mosebach brilliert zwischen genauer Beobachtung und filigranen Einschüben, ganz aus Absonderlichkeit und mystischer Lust. Krähen als Schicksalsvögel. Und grandios umdunkelte Beschreibungen fremdländischer Kulturen. Ein geschmeidig-leichter Fluss der Dinge, die doch in einer bitter stimmenden Unausweichlichkeit auf den Niedergang hinsteuern. Auch hier, wie in anderen Romanen Mosebachs: ein souverän helles Erzählen noch im Herzen der Finsternis. Hell, ja, aber über Abgründen. Prägend ist widerständige Noblesse, die sich nicht aufs gängig Barsche herabholen lässt.
Erzählen ist diesem Autor einfach schön, bedeutet ihm Stil - keine Kritik am Zustand der Welt gerät ihm je zu Tonlagen, darin sich nur jene Grobheit wiederholt, die sie anprangern. Mosebach richtet seine sarkastische Präzision nicht gegen die Menschen selbst. Denen nicht aufzubürden ist, ihre eigene Welt zu begreifen, dem Chaos ihrer inneren Ausdruckslosigkeit standzuhalten. Er steht über den Dingen, was zuvörderst bedeutet: sich nicht zu erheben, auch über jene nicht, die doch kaum mehr verkörpern als die Verwitterung einstiger gesellschaftlicher Bindung und Bildung. Freilich wird schnell klar: Verlieren ist das Grundwort jeder Entwicklung; Nichts hält an, nichts hält sich. Nichts hält, was versprochen ward. Der Trost der Verlierer liegt darin, dass aus allem scheinbar Festgefügten Transit wird: Die Gewinner erfahren es stets nur ein wenig später als die Verlierer. Mehr Gewinn ist da nämlich nie. Unteilbare Welt.
Kritiker werfen dem Roman vor, er benutze ganz selbstverständlich Handy und Laptop, noch ehe diese überhaupt zur Welt gekommen seien. Ach, wir benutzen täglich, als seien sie bereits etwas Verwirklichtes, Parolen einer höherer Wert- und Politikbestimmung, die niemals Wirklichkeit werden! Mosebach spielt übertrieben, ja aufreizend lax mit dem Übergriff des Technischen, das in jedweder Zeit zu früh kommt, um hinterm unbestrittenen Aufglanz seiner Nützlichkeit doch wahre Bereicherung zu bedeuten. Und es kann einen altmodisch umhauchten Autor wie ihn gewiss zum tischfeinen Kichern bringen, wenn allein schon seine auffällig zeitversetzten Hightech-Details genügen, um hier und da im Feuilleton von einer neuen Realismusdebatte zu sprechen. Realität ist diesem Erzähler seit jeher Mosaikmaterial, er schaut gleichsam ständig in sonnenlichtige Fensterscheiben, nicht jedoch, um dahinter das nackte Wirkliche zu sehen, sondern um den Spiegelreflex zu erzählen - der Bilder einer untrennbaren Einheit von Sein und Schein zurückwirft.
Der Höhepunkt des Romans: eine Art Gala-Party, die Schuldengeld eintreiben soll. Das Blutbuchenfest. Es soll etwas festigen. Es offenbart sich aber mehr denn je eine Auflösung. Eine öde exzessive Seelenaustreibung. Und in Bosnien der blutige Bruch der Verhältnisse. So vieles gescheitert in diesem Buch. Am Ende Scherben, Schmutz, Scheußlichkeiten. Es ist, als verebbe jeder Zukunftswind. Ivana aber, der nerv- und seelenwunde Mensch, räumt die Partyreste auf. Immer räumt auf, wer am meisten leidet. Die Lebenstapferkeit ist die große Last der Gebeugten, ist wie eine Gabe, mit der sie geschlagen sind. Sie, die keiner aufrichtet, die keiner in den Arm nimmt. Ivana ist das große Geschenk Martin Mosebachs ans Gewissen seiner Leser.
Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Roman. C. Hanser Verlag. 448 S., geb., 24,90 €.
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