Darauf einen Becher Sekt!

Walter Momper erinnert sich an Zettel und Zufälle im Herbst 1989

Was das Skelett hinterm Rücken des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin uns bedeuten sollte, blieb unklar. Ein Zufall? Vielleicht befindet sich in der Ecke, in die Walter Momper in Lehmanns Fachbuchhandlung platziert wurde, die Abteilung medizinischer Publikationen? Aus der letzten Reihe in dem zur Buchpremiere am Dienstagabend stark besuchten Laden war dies nicht zu verifizieren. Auffällig aber auch hier hinten: Die Buchverkäufer haben sich auf ein linksintellektuelles Publikum eingestellt und die Bestseller der Wirtschaftsnobelpreisträger und Globalisierungskritiker Paul Krugman und Joseph Stiglitz gut sichtbar aufgestellt, wohl in der Hoffnung, neben Mompers Erinnerungsbuch an den Herbst 1989 auch jene noch verkaufen zu können.

»Diese Nacht lebte von Zufällen«, urteilt der Sozialdemokrat über den 9./10. November vor 25 Jahren, als die Berliner Mauer fiel. Eigentlich fiel sie nicht. Und der erste Sturm auf die Grenze erfolgte von Westberliner Seite aus. Ausgelöst durch die Berichterstattung in den »Tagesthemen« um 22 Uhr über eine internationale Pressekonferenz in Ostberlin.

»Die überraschende Maueröffnung war das Ergebnis des Unvermögens von Krenz, Schabowski und des ganzen Politbüros«, sagt Momper. Das freizügigere DDR-Reisegesetz sollte erst ab 10. November gelten. Doch der seinen »Zettel« vor den Kameras der Welt brav vorlesende, indes nicht begreifende Günter Schabowski antwortete stotternd auf die Nachfrage des »Bild«-Reporters Peter Brinkmann, ab wann diese gelte: »Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort. Unverzüglich.« Die Politbüromitglieder fuhren nach Hause, in die geschlossene Siedlung Wandlitz. »Sie hatten eine Bombe geschärft und den Zeitzünder eingestellt und hatten das doch nicht einmal gemerkt«, kommentiert Momper.

Das Westberliner Stadtoberhaupt fuhr an jenem Abend ins SFB-Studio, eingeladen zu einer Livediskussion mit der DDR-Schauspielerin Steffi Spira, der Grünen-Abgeordneten Renate Künast und dem CDU-Vorsitzenden Eberhard Diepgen (der sich noch heute schwarz ärgert, damals nicht der Regierende in Westberlin gewesen zu sein). Kurz vor 23 Uhr wird Momper ein Zettel (sic) zugesteckt, den er nicht vorliest: »Mehrere hundert Personen überqueren an der Bornholmer Straße die Grenze. Viele Menschen an den anderen Übergängen.« Nach dem zweiten Zettel: »Bornholmer Straße nach Erkenntnissen des Lagedienstes zur Zeit ohne Grenzposten. Ausreise von DDR-Bürgern geht bereits in die Tausende«, verlässt er das Studio, um an einen Ort des Geschehens zu eilen - in die Invalidenstraße. Dort trifft er auf einen Hauptmann der DDR-Grenztruppen, der ihn nicht durchlassen will. Der Westberliner Spitzenpolitiker wird von den Ostberlinern erkannt, umringt und eingekeilt: »Sie wollten mit mir Sekt aus Pappbechern trinken.« Doch der Mann mit dem roten Schal muss erst seine Pflicht erfüllen, steigt auf einen Tisch und ruft den Massen per Megafon zu: »Liebe Berlinerinnen und Berliner, wir alle freuen uns über die Öffnung der Grenze. Das ist eine sehr glückliche Stunde für uns. Aber ich bitte Sie, bei aller Freude, machen Sie doch den Kontrollpunkt frei. Lassen Sie die Trabis durch. Bitte machen Sie doch die Wege frei, damit alle ungehindert über die Grenze können.« Im Rückblick meint Momper: »Das war wohl die sinnloseste Ansprache, die in dieser Nacht gehalten wurde. Die, die sie akustisch verstehen konnten, jubelten nach jedem Satz nur lauter und prosteten mir zu, und die, die weiter weg waren, verstanden nichts und jubelten auch.«

Selbst die berühmtesten filmischen Aufnahmen in dieser Nacht verdanken sich purem Zufall. Ein Team des Hamburger Nachrichtenmagazins »Spiegel« kam zu spät zu Schabowskis Pressekonferenz und wurde nicht mehr eingelassen. Georg Mascolo entschied: »Dann gehen wir einen saufen.« Auf der Suche nach einer annehmbaren Kneipe gelangte er mit seinen Kameraleuten Rainer März und Germar Biester zur Bornholmer Straße und bemerkte: »Da stimmt was nicht.« Mascolos Reportage über jenen historischen Moment, als DDR-Grenzer ohne Befehl den Schlagbaum öffneten, ist wie Schabowskis »Zettel« inzwischen ins UNESCO- Weltdokumentenerbe aufgenommen worden.

Zufälle haben natürlich ihre Vorläufe und Vorfälle. Momper berichtet in der Buchhandlung in der Friedrichstraße über Gespräche mit Schabowski und anderen DDR-Vertretern vor jener »Wahnsinns«-Nacht. Er wusste, dass die strikten Reisevorschriften der DDR gelockert werden sollten. Darauf wollte der Senat vorbereitet sein. Man rechnete allerdings mit einem Ansturm von »nur« etwa 300 000 DDR-Bürgern. Als Willkommensgruß wollte man jenen an den Grenzübergangsstellen ein BVG-Liniennetz für Westberlin - »Die Wartburgs und Trabbis sollten sie im Osten lassen« - und Präservative überreichen, offenbart Momper bei der Buchpremiere.

Seinen Erinnerungen vorangestellt ist ein Interview des Verlegers Frank Schumann und Journalisten Peter Brinkmann mit Momper. Von beiden befragt, was seine größte Sorge in jener dramatischen Zeit war, antwortet er, ähnliche wie die »Russen« gehabt zu haben: »Wir hatten für zwei Millionen Westberliner täglich die Existenz zu sichern ... Also brauchten wir keine Wirren und Unruhen in der DDR. Und die Russen mussten ihre 600 000 Soldaten versorgen und deren Sicherheit garantieren.« Ende ’89/Anfang ’90 hatte Momper etliche wichtige Gespräche mit »Russen«, so mit Portugalow und Falin. Im Rückblick bemerkt er: »Die Russen waren überhaupt nicht das Problem. Das waren sie nur in unserem, also dem westlichen Denken.«

In der Tat, ungeachtet aller Zufälle und Zettelwirtschaften, entscheidend war damals das besonnene Verhalten der »Russen«. Ohne sie hätten sich weder die Berliner noch alle Deutschen freuen können.

Walter Momper: »Berlin, nun freue dich!« Mein Herbst 1989. Das Neue Berlin. 395 S., br., 19,99 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.