Wahnsinn. Hüben wie drüben

Nicht nur in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg: »Front« am Thalia Theater Hamburg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist so schwer geworden, einer politischen Kraft zu glauben: Jedes Programm verheißt, jede Praxis verheizt - auf der Suche nach Wahrheit lügt jede Seite auf ihre jeweils sehr eigene Weise. Seitdem jener hart malmende Mechanismus zusammenbrach, der das 20. Jahrhundert in kalter Balance hielt, macht Parteinahme zunehmend eines: misstrauisch. An jeden Weltformungs- oder auch nur Welterklärungsversuch heften sich immer häufiger und heftiger Zweifel. Revolutionär und Reaktionär, Friedenskämpfer und Waffengänger, Demokrat und Demagoge, Radikalist und Reformer, das sind Reizfiguren des Politischen, die kaum mehr in scharfer Abgrenzung existieren, sondern vielfach ineinander verschmolzen und so den Januskopf zum Oberhaupt zahlreicher Weltgeschehnisse erhoben.

Gegensätzlichste Befunde passen auf einen einzigen Atemzug. Beispiel Ukraine. Die abstoßende antirussische Arroganz des Westens ist ebenso wahr wie dessen Mahnkraft für Demokratie; das Freiheitssignal vom Maidan bleibt genauso Fakt wie jenes gefährliche Dunkelmännertum des Missbrauchs, das sich am Feuer des Aufbruchs wärmte - und Putins moderner Zarismus ist ebenso unerträglich, wie sein annektierendes Agieren begreiflich und seine Großmächtigkeit doch letztlich nur von politisch handelsüblicher Logik erzählt.

Die vor Kommentaren berstende Mediengesellschaft suggeriert zwar, wir könnten die Zeit, in der wir leben, entschlüsseln, gültig analysieren. Indes: Wir können es nicht. Leben und zugleich darüber Klarheit gewinnen, bleibt eine Illusion. Privat wie gesellschaftlich. Gesinnung hilft da, sie schmiedet Vermutungen, Zugehörigkeitsgefühle schleunigst um in eingebildete Gewissheiten vom jeweiligen Stand der Dinge - verständlich, denn: Wer möchte schon ratlos in Krisen stecken. Und aus den Tiefen der Wirrnisse raunt stets der Nutznießer alles Unerklärlichen, bietet sich als böser Erlöser an: der Krieg.

Wo Geschichtsschreibung trotzdem und notwendig weiter sortiert, einordnet, Ursachen gewichtet, Wirkungen seziert und am meisten dort ideologisiert, wo sie von objektiver Betrachtung spricht - dort wächst Künstlers Auftrag: Partei zu ergreifen. Für den elend gestoßenen Menschen, aber beiderseits aller Frontlinien. So sinnbildlich wie konkret: Erst wird der Einzelne als Geschichtsträger hochgeschossen, dann als Geschichtsobjekt abgeschossen - dies ist die Erzählung, die durch die Zeiten geht. Schreiendes Paradoxon: Es gibt sinnvolles Kämpfen, sinnvolle Gegenwehr, sinnvolles Leiden, sinnvolles Büßen, sinnvolles Darben und sinnvolle Hingabe - aber es gibt auf Schlachtfeldern kein sinnvolles Sterben. Nicht hüben, nicht drüben.

Am Thalia Theater Hamburg hat Luc Perceval just diesem Gleichgewicht schrecklichster Erfahrungen ein szenisches Oratorium gewidmet: »Front«, eine Collage aus Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« und »Le Feu« von Henri Barbusse. Dazu Feldpost. Zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren: eine »Polyphonie« - gesprochen wird deutsch, französisch, flämisch und englisch. Live musiziert Ferdinand Försch, ein Klanginstallationskünstler. Nein, er musiziert nicht, er scheppert, er lässt Sägen quälend singen, und Schläge auf eine hohe metallene Wand (Bühne: Annette Kurz) sind der wummernde, schneidend scharfe, gellende, düster-dunkle Nachhall oder Vorhall des Mordbetriebes. Eisentöne einer Panzerung, die auch Videoleinwand ist, für Bilder von Soldatengesichtern. Menschen, auf die wir schauen, als seien es Wesen, die nicht nur tot sind, nein: Es hat sie nie gegeben - denn wer erinnert sich noch an sie?! Das genau ist jene Wahrheit, angesichts derer jeder Krieg auflacht: Ich, sagt der Krieg mit gebleckten, nie faulenden Reißzähnen, ich verdeutliche nur auf krasse Weise, was euer aller Schicksal ist. Ja. Man stelle sich unsere Fotoalben in hundert Jahren vor. Ein Objekt nur noch für Flohmärkte. Gelebt. Vergessen. Nie dagewesen?

Der Abend ist eine Art Sprechoper und Perceval einmal mehr der große Symphoniker der Klage - der Klage darüber, dass der Mensch in Abständen unwandelbar irre wird an seinen Zustandskrisen: Aus Agonie wird Aggression, aus Zivilisationsmüdigkeit erwächst Lust auf böse Radikalität, die Alltagslangeweile der schlaff hängenden Arme greift immer wieder sehnsüchtig nach Waffen. Alles so unbegreiflich. Und das Metall der Bühnenwand kreischt, schrammt, dröhnt. Hören ist Qual, so, wie ein jedes Verstehen im Leben nur dann Wert hat, wenn es quält. (Wer diesen Krieg mit sich selber nicht führt, lebt einen falschen Frieden.)

Die Inszenierung verfällt nicht in die Grobschlächtigkeit, geschichtliche Lehren für die Vermeidbarkeit von Kriegen auszubreiten, sie präsentiert sich nicht als politökonomisches Lehrstück. Sie hat gleichsam keinen Klassenstandpunkt, sie geht einem mit brennender Trauer ans Herz, das auf beiden Seiten der Front schlägt. Der Weltkrieg 1914 bis 1918 als brutalster Auslöser einer erstmaligen europäischen Einheit im zynischsten Sinne: Man schließt einander die Reihen durch Frontenbildung; man schließt einander zusammen, indem man einander zusammenschießt - Krieg wird erstmals zur höllischsten Form gemeinsamer Wahrnehmungen über alle Ländergrenzen hinweg. Das Martialische fleht. Das Mörderische betet. Es schnürt, es würgt.

Die zahlreichen Darsteller feldlagern in tiefer Einsamkeit und weltalltiefer Verlorenheit. Dunkle zwei Stunden. Menschen wie Kometen, abgesplittert. Leselampen schicken scharfes, begrenztes Licht. Man steht vor Notenständern, sitzt auf Bierkisten. Berichte vom Schützengraben. Berichte darüber, wie jeder Tote nur Trainingsobjekt für eine Bürokratie der ordentlichen Registratur ist - die einzig dadurch lebendig sein kann, dass sie kälter ist als der Tod. Alles schauderhaft. Toll, wie man mit dem Spaten zuschlagen kann! So der Deutsche. Toll, wie viele Deutsche er schon erledigt hat! So der Belgier. Was der eine sagt, könnte auch der andere sagen. Feinde, und doch gleiche Brüder. Da krepiert einer, tagelang brüllend, zwischen den Fronten, niemand hilft - weil Deutsche wie Alliierte bei einer Bergung ins Schussfeld geraten würden. Jeder ist sich selbst der Nächste - der Krieg als Ratgeber auch für sogenannte Friedenszeiten. Oder?

Nie ausführendes Spiel. Nur Andeutung. Nur? Distanz - in der aber der Blutstrom klopft. Anschwellender, abschwellender Sprachgesang. Bernd Grawert: dies grandios Muskulöse, Sehnige bis hinein ins Atmen zwischen den Worten; eine Sprache, als schwanke das Leben zwischen Hauen und Stechen, also zwischen Axt und Rose. Bernhard Klaußner: dünnlippiges Beharren auf Würde noch im Entsetzen; hartes, pressendes Erzählen vom Unsagbaren. Bei diesen beiden wie bei den anderen: Sprache beginnt klar, um mehr und mehr an der Aufgabe zu verzweifeln, etwas zum Ausdruck zu bringen. Lallen, leiern - Worte wollen Satz werden und ertränken sich selber im Stammeln.

Perceval hat einen geradezu schrecklichen Sinn für das Absurde: Die Angst vorm Krieg, das Zittern vor den feindlichen Bajonetten, das Vorempfinden der fremden Messer im eigenen Fleisch - es kann dies alles so übergroß sein, dass man nichts mehr ersehnt als just den Beginn des nächsten Sturmangriffs. Dass man also nichts mehr ersehnt als die Nähe der gegnerischen Bajonette und Messer. Wühl in mir, Krieg! - nur wenn wir schreien, spüren wir, dass wir noch nicht gestorben sind. Sterben ist Leben, Gestorbensein nicht. Es lebe das Leben! Vorwärts! Ja, das schnürt und würgt. Etwa, wie eine Krankenschwester (Oana Solomon) ein geradezu umwahntes erotisches Verhältnis zum Krieg aufbaut. Pervers? Percevals Inszenierung schaut uns an: Ach, ihr Selbstsicheren aus weiter Entfernung, ihr zufällig Verschonten, ihr Großfressen des fortwährend sicheren Urteils, ihr Ärmlichen ...

Der Schluss: Die Leselampen werden ausgeknipst. Wie Sterne, die keinen Himmel mehr haben. Nie hatten. Nur Hölle ist da. Steven van Watermeulen und Bernd Grawert sprechen gleichzeitig Monologe, die Worte stürzen ineinander wie Nahkämpfer, du verstehst nichts von den Texten, und doch verstehen wir alles. Dunkel. Stille. Ein Schrei: »Marie?!« Irgendein Name, die gesamte Menschheit: Wo bist du? Keine Antwort.

Nächste Vorstellung: 25. April

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