Gesungener Working-Class-Geheimtipp

Ulrike Winkelmann über die Dialektik britischer Politik und Billy Bragg, der sich ein unabhängiges Schottland wünscht

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Nun da die Frage so aktuell ist, warum eine Halbinsel oder ein sonstwie herumragender Landesteil nicht einfach von anderen Leuten übernommen oder sich selbst übergeben werden kann, bekommt hoffentlich auch Schottland endlich die nötige Aufmerksamkeit. Diesen September ist es soweit: Die Schottinnen und Schotten stimmen darüber ab, ob sie sich aus dem Vereinigten Königreich absetzen wollen. Ein »Ja« am am 18. September könnte nach den Plänen der Scottish National Party zu einem unabhängigen Schottland am 24. März 2016 führen.

Ohne hier zur (für die Schotten) ruhmreichen Schlacht von Bannockburn vor 700 Jahren zurückgehen zu wollen, so hat doch die schottische »Devolution« bereits eine beträchtliche Geschichte hinter sich. Gewohnheiten und Gesetze waren in England und Schottland seit je nicht einheitlich. Schotten sind zum Beispiel stolz darauf, dass bei ihnen traditionell jeder überall hergehen darf, einfach so, zum Gucken oder auch Picknicken. Längst gibt es zwar Gesetze, die das eine oder andere unbefugte Betreten definieren. Doch werden Gäste stets und gern darauf hingewiesen, dass der schottische Boden erst einmal frei ist und dann erst Eigentum.

Selbstredend hat der Wunsch nach Loslösung von der Londoner Regierung nicht nur mit Freiheitsgefühlen auf regennassen Hügeln zu tun, sondern maßgeblich mit den riesigen Ölvorkommen, die seit den 1970er Jahren vor der schottischen Küste gefunden wurden. Öl und Whisky sind die wichtigsten Exportartikel, mit denen der Chef der Scottish National Party, der zählebige und charmant-bösartige Alex Salmond, die Unabhängigkeit Schottlands ökonomisch begründen will. Niemand schaut unschuldiger aus braunen Teddybäraugen unter tanzenden puscheligen Augenbrauen hervor als Salmond, wenn er in der BBC die unglaublichsten Unverschämtheiten über den Premierminister David Cameron ausgießt - und dabei von keiner noch so erfahrenen Moderatorin gestoppt werden kann.

Britische Politik kann so anregend emotional sein. Wer in den 1990er Jahren durch Schottland reiste, bekam eindrucksvoll geschildert, dass es nicht den geringsten Grund gäbe, den (hier eine Reihe ärgster Schimpfworte einsetzen) Politikern in London das schöne Öl-Geld für ihre (weitere vielfältige Schimpfworte) Torypolitik in den Rachen zu stopfen. Eine in deutschen Ohren übrigens ungewohnte Verbindung: Öl war links, weil gegen die konservative Regierung nutzbar, weswegen Nichts-Abgeben vom Öl-Vermögen nicht etwa unsolidarisch, sondern ebenfalls links war, denn die Engländer wählten nun einmal conservative, die Schotten aber Labour.

Dass die Labour-Regierung unter Tony Blair dann gleich 1997 eine Abstimmung über Devolution ansetzte, die zur Gründung eines Regionalparlaments in Edinburgh führte, beruhigte die Gemüter nur kurzzeitig. Deshalb ist nach interessanten linguistischen Debatten über eine neutrale Formulierung der Frage nun die neue Abstimmung angesetzt: »Soll (›Should‹) Schottland ein unabhängiger Staat sein?«

Nun stehen die Umfragewerte derzeit eher auf »Nein«, zumal Cameron für diesen Fall weitere Zugeständnisse in Aussicht stellt und die EU im Fall eines »Ja« mit (vorläufigem) Rauswurf droht. Auch werden englische Linke fast depressiv über die Möglichkeit, dass die insgesamt linken fünf Millionen Schotten sie mit den Konservativen und deren immer weiter gärenden Frust über den Niedergang des Empires allein lassen könnten.

Dagegen hat sich aber diese Woche Billy Bragg, singendes Working-Class-Heiligtum, gewendet. Geht!, geht doch!, rief er den Schotten im »Guardian« zu - »und lasst uns Engländer frei!« Die Idee: Nur weil die schottischen Labour-Wähler ihre schottischen Privilegien - darunter auch gebührenfreie Unis und Krankenversorgung - genössen, habe Tony Blair die Labour Party erst auf neoliberalen Kurs bringen können. Ohne SchottInnen aber werde Labour gezwungen, sich wieder konkreter mit den Bedürfnissen der EngländerInnen zu befassen. Und auch die englischen Tory-Wähler würden dann lernen, dass regionale Unabhängigkeit zu besseren staatlichen Diensten führe. »Wenn die Schotten solidarisch mit dem englischen Volk sein wollen«, schreibt Bragg, sollten sie für die Unabhängigkeit stimmen - »and set us all free«. Britische Politik kann so dialektisch sein.

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