Nelson Mandelas Versprechen ist noch lange nicht eingelöst
Die einstige ANC-Kämpferin Shirley Gunn sieht in Südafrika auch über 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid noch immer eine geteilte Gesellschaft
nd: Was erwarten Sie von diesen fünften demokratischen Wahlen nach dem Ende des Apartheidregimes?
Gunn: Der ANC wird erneut gewinnen. Das sage ich nicht nur aufgrund der Umfragen. Es gibt einfach noch keine erkennbare Alternative. Die größte Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) ist es auf keinen Fall. Sie hat dennoch die Möglichkeit, Gauteng als zweite Provinz nach Westkap zu gewinnen, und wird versuchen vorzuführen, dass sie mindestens einen besser organisierten öffentlichen Dienst hinbekommt. Der Rest sind Splitterparteien, die keine Gefahr für den ANC darstellen. Was mich selbst betrifft, so habe ich bereits bei der letzten Wahl lange gezögert, wo ich mein Kreuz machen soll. Der ANC macht es selbst Menschen wie mir, die jahrelang in seinen Reihen gekämpft haben, derzeit mit seiner Politik nicht leicht, sich für ihn zu entscheiden. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Millionen Menschen sind arbeitslos, bei den Jugendlichen etwa 50 Prozent.
Die größte Gewerkschaft des Landes, NUMSA, hat sich aus dem zum Regierungsbündnis gehörenden Gewerkschaftsverband COSATU verabschiedet und will eine neue Arbeiterpartei aufbauen. Zudem existiert bereits die nach den Ereignissen in Marikana gegründete WASP, die sich eventuell dieser Arbeiterpartei anschließen will. Sie kandidiert bereits in diesem Jahr. Könnte sie ein Sammelbecken für die Millionen Unzufriedenen werden?
Dass man nach Marikana nicht einfach zur Tagesordnung würde übergehen können, war klar. Der ANC wurde als mitschuldig an der Ermordung von streikenden Bergarbeitern angesehen, also brauchte man eine neue Bewegung. Ob die WASP oder später die von der NUMSA angestoßene neue Arbeiterpartei das Potenzial hat, zu einer starken Kraft mit Einfluss auf strategische Fragen der Politik zu werden, das wage ich noch nicht zu beurteilen. Wenn man wie ich viel auf kommunaler Ebene arbeitet, sieht man dort eine Vielzahl von Menschen mit vielen Talenten. Veränderung erwarte ich eher von einer Art Graswurzelbewegung als von neuen Parteien. Ganz sicher aber nicht von Julius Malema, dem Chef der Economic Freedom Fighters, der mit seinem Politikstil vielleicht Chancen bei den jungen Arbeitslosen hat, aber nicht das Format und auch nicht den Willen, die nötige zweite Phase der Transformation des Landes einzuleiten. In meinen Augen ist er ein Populist. Aber das Spielfeld ist - nach den Toten von Marikana - reif für ihn.
1990: Präsident Frederik Willem de Klerk kündigt am 2. Februar 1990 an, das Verbot von ANC, PAC, SACP und anderen Gruppen aufzuheben. Kurz darauf wird Nelson Mandela freigelassen.
1994: Vom 26. bis 29. April 1994 finden die ersten Parlamentswahlen unter Beteiligung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit statt. Der ANC erhält 62,6 Prozent der Stimmen. Nelson Mandela übernimmt am 10. Mai sein Amt als erster schwarzer Präsident.
1999: Der ANC legt auf 66,4 Prozent zu. Thabo Mbeki wird Nachfolger Nelson Mandelas.
2004: Der ANC erreicht 69,7 Prozent der Wählerstimmen. Mbeki bleibt bis 2008 im Amt, wird parteiintern in einem Machtkampf mit Jacob Zuma gestürzt und interimsweise von Kgalema Motlanthe beerbt.
2009: Der ANC erreicht 65,9 Prozent der Wählerstimmen. Jacob Zuma wird neuer Präsident.
2014: Bei den Wahlen am 7. Mai ist der ANC Favorit, Zuma ist sein Präsidentschaftskandidat. ML
Mandelas Erbe sehen Sie also noch lange nicht in sicheren Händen?
Ich frage mich oft: Sind wir visionär und couragiert genug, um in seine Fußstapfen zu treten?
Wie lange wird das Regierungsbündnis aus ANC, Kommunistischer Partei (SACP) und COSATU noch halten und wieso ist die SACP überhaupt noch im Bündnis?
Es wird zerfallen. Gewerkschaft wird wieder Gewerkschaft sein oder noch mehr Anhänger verlieren als schon geschehen. Dass die SACP noch dazu gehört, obwohl es in ihren Reihen auch viel nicht öffentliche Kritik gibt, führe ich auf die Doppelmitgliedschaft vieler Leute in der Führung zurück. Die ist historisch gewachsen. Viele ANC-Mitglieder waren und sind gleichzeitig in der SACP. Ins neue politische System Südafrikas passt die gleichzeitige Mitgliedschaft in zwei Parteien eigentlich nicht.
Ein Kampfgefährte Nelson Mandelas, Denis Goldberg, hat gesagt, es sei das System, das die Korruption schafft. Und Altbundespräsident Horst Köhler meinte: »Korruption in Afrika trägt auch das Gesicht westlicher Konzernvertreter und die Nummern europäischer Banknoten.« Was meinen Sie?
Ich sehe das etwas anders. Schuld kann man an vielen Stellen suchen; das ist legitim. Vor allem aber sehe ich sie bei denen, die sich korrumpieren lassen, bei jenen, die einst Leute bekämpft haben, die sie heute imitieren. Eine Erklärung dafür ist rasch gefunden, wenn man an die lange Zeit der Entbehrungen denkt, die das Volk in Zeiten der Apartheid erleiden musste. Aber das allein rechtfertigt noch lange nicht, sich auf Kosten der Massen zu bereichern.
Sie haben an anderer Stelle von Ihrer persönlichen Enttäuschung über die Entwicklung seit 1994 gesprochen. Können Sie sie beschreiben?
Ich hatte nach den Jahren des bewaffneten Kampfes keine Ambitionen, irgendeinen hohen Posten einzunehmen. Aber ich hoffte, man würde mich dort einsetzen, wo ich mit meinen speziellen Kenntnissen und Erfahrungen im militärischen Kampf, aber auch im sozialen Bereich sinnvoll hätte arbeiten können. Das ist nicht geschehen, so als habe man seine Schuldigkeit getan und werde nicht mehr gebraucht. Ich habe mir dann mit dem Human Rights Media Centre selbst eine Aufgabe gestellt, für die ich mehr Unterstützung aus dem Ausland, unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, erhalte als von südafrikanischer Seite. Und noch etwas: Es gab ein großes Willkommen für die aus dem Exil Heimkehrenden, aber keine Feier für die, die im Inland über viele Jahre ihr Leben riskiert haben. Ich bin enttäuscht von den Menschen, die die Freiheit anscheinend vor allem als Chance für sich selbst und ein Leben im Luxus gesehen haben. Und ich bin enttäuscht, weil Mandelas Versprechen noch lange nicht eingelöst ist; wir sind noch immer eine geteilte Gesellschaft.
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