Atomarsenale brauchen »tiefe Einschnitte«
Abrüstungsexperte Götz Neuneck über die Ukraine-Krise und neue Initiativen zur Reduzierung der nuklearen Gefahr
nd: In den Schlagzeilen sind derzeit die Ukraine-Krise, der syrische Bürgerkrieg, Afghanistan und andere Konfliktherde. Ist es da realistisch, über nukleare Abrüstung zu sprechen?
Neuneck: Die nuklearen Arsenale sind nach wie vor so groß, etwa 15 000 Sprengköpfe, dass die atomare Abrüstung nicht aus dem Auge verloren werden darf. Auch Konflikte dürfen uns davon nicht abhalten, wobei die Ukraine-Krise natürlich Einfluss auf die Debatten über Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland hat.
Zeigt nicht gerade die Ukraine-Krise, wie gefährlich die Eskalation eines regionalen Konflikts sein kann, zumal auf jeder Seite Kernwaffen bereitstehen?
Es ist erschreckend, dass wegen der Krise der weitere Abrüstungsdialog verschleppt wird. Von der ursprünglich anvisierten Welt ohne Kernwaffen ist derzeit nicht mehr die Rede. Man denke nur an die taktischen Kernwaffen auf beiden Seiten in Europa. Wir sollten nicht vergessen, dass es angesichts der nuklearen Gefahr sogar während des Kalten Krieges weiterhin Gespräche über Rüstungsbegrenzung gab. Zumindest haben beide Seiten bisher erklärt, sie würden die vereinbarten Abkommen einhalten.
Wie kam es zu dem Projekt »Tiefe Einschnitte«?
Unser Ausgangspunkt war, Ideen zur Überwindung des Stillstands bei der Abrüstung zu entwickeln. Dabei geht es insbesondere um Lösungsansätze für ungeklärte Fragen, die bisher die amerikanisch-russischen Verhandlungen behinderten. Das betrifft nicht nur Einschnitte bei den strategischen Kernwaffen, sondern auch damit verbundene andere Probleme, wie die taktischen Kernwaffen, die Raketenabwehr oder das US-Projekt »Conventional Prompt Global Strike«, also hochpräzise konventionelle Waffen auf Interkontinentalraketen. Diese Initiative unseres Instituts fand die Unterstützung der US-amerikanischen Arms Control Association und der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie des deutschen Auswärtigen Amtes..
Neben Experten aus zwei Kernwaffenstaaten sind auch Deutsche in der Kommission. Warum?
Natürlich sind die Experten der USA und Russlands besonders gefordert; Ziel ist schließlich die drastische Reduzierung ihrer Nuklearwaffen. Aber Deutschland kann und muss hier eine vermittelnde Rolle spielen. Schließlich sind wir nicht nur ein führendes NATO-Mitglied, sondern auch ein wichtiger politischer und ökonomischer Partner Russlands. Als Staat in der Mitte Europas sind wir doch besonders daran interessiert, die klassischen Szenarien des Kalten Krieges und der nuklearen Abschreckung zu überwinden und ein kooperatives amerikanisch-russisches Verhältnis zu fördern. Deshalb wird in unserem Bericht betont, dass Deutschland eine aktive Rolle spielen muss, etwa beim Dialog über taktische Kernwaffen oder die Nukleardoktrin der NATO, aber auch hinsichtlich der Raketenabwehr. Es ist deshalb nur zu hoffen, dass die obersten Entscheidungsträger in Deutschland und der NATO nach der Überwindung der gegenwärtigen Krise alles dafür tun, um Russland wieder in den Abrüstungsdialog einzubinden.
Was ist das Ziel des ersten Berichts der »Deep Cuts Commission«?
Die Empfehlungen der Kommission sind darauf gerichtet, die Bedingungen für tiefe Einschnitte in die nuklearen Arsenale der USA und Russlands zu verbessern. Beide verfügen immerhin über etwa 95 Prozent aller Kernwaffen. Begrenzungen auf 1000 Sprengköpfe und 500 Trägersysteme pro Seite sind ebenso machbar wie Vertrauensbildung bei taktischen Kernwaffen und eine Entrümpelung der Doktrinen des Kalten Krieges wie Erstschlag und Vorwärtsstationierung. Ein Ersatz für den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ist bisher nicht gefunden.
Wie soll es weitergehen?
Die Ukraine-Krise wirkt sich zur Zeit negativ auf den Abrüstungsdialog aus. Vertreter beider Seiten erklärten zwar, dass die Umsetzung des neuen START-Vertrages weiter geht. Das ist aber nicht unbedingt gesichert, denn es gibt schließlich Kräfte, die dagegen arbeiten. Wir jedenfalls wollen unser Projekt fortsetzen. In der nächsten Phase, wenn denn die Finanzierung gesichert ist, soll es auch um die anderen »offiziellen« Kernwaffenstaaten gehen, das heißt jene, die ebenfalls dem Nichtweiterverbreitungsvertrag angehören - China, Frankreich und Großbritannien. Später müssten die sogenannten »faktischen« Kernwaffenstaaten einbezogen werden, also Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Wir werden versuchen, mit Experten aus diesen Ländern zu diskutieren. Wenn der Dialog auf Regierungsebene stockt, kann ein solcher Dialog durchaus nützlich sein.
Sie sind gerade von der Präsentation des Berichts in Washington und New York zurückgekehrt. Wie wurde er aufgenommen?
Wir hatten eigentlich mit größerem Widerstand in den Diskussionen gerechnet. Aber unter den vielen Rüstungskontrollexperten in Washington fanden unsere Vorschläge großen Anklang. In New York diskutierten wir mit Diplomaten aus Teilnehmerstaaten des Nichtweiterverbreitungsvertrages. Während jene aus Nichtkernwaffenstaaten den Bericht sehr interessant fanden, nahmen ihn die Vertreter der Nuklearstaaten bisher schweigend zur Kenntnis. Sie sollten ihn nun in Ruhe studieren. Es wäre schon gut, wenn wir damit einen Denkprozess angestoßen haben. In Berlin hatten wir den Bericht schon vor einiger Zeit inoffiziell vorgestellt. Nun sollte, wenn möglich, eine Präsentation in Moskau folgen, was derzeit sicher nicht einfach ist. Aber unsere russischen Kollegen arbeiten darauf hin. Leider haben uns die großen US-amerikanischen Medien mit Schweigen bedacht. Für sie steht die Ukraine derzeit im Mittelpunkt.
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