Entscheiden - nicht bestimmen

Die Europaabgeordneten werden nicht von allen ernst genommen. Das soll sich ändern.

  • Katharina Strobel, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Das EU-Parlament hat zuletzt an Einfluss gewonnen. Gegen die Staats- und Regierungschefs kommt es oft aber nicht an. Die Wahl des Kommissionspräsidenten könnte zur Machtprobe werden.

Das Europäische Parlament hat in den vergangenen Jahren viele Beinamen erhalten: Wanderzirkus oder Schwatzbude zum Beispiel. Auch vom Raumschiff war schon die Rede. Aber in den meisten Fällen fand es gar keine Erwähnung. Mit der Europawahl am Wochenende stand für die Institution jedoch ein echter Showdown an. Mehr als 1000 Journalisten hatten sich für die Wahlnacht akkreditieren lassen. Das Brüsseler Plenum wurde kurzerhand in ein Großraumbüro verwandelt, von dem aus die Journalisten ihre Nachrichten in die ganze Welt sendeten.

In den Gängen und Fluren des Gebäudes im EU-Viertel stehen Stühle und Tische, die seit Tagen reserviert sind. Kilometerweise haben Techniker Kabel verlegt, um die elektronischen Medien zu versorgen und um spezielle Außenscheinwerfer anzubringen, die das Gebäude in der Nacht zum Montag in besonderem Licht erscheinen lassen sollten.

Das Scheinwerferlicht wünschen sich viele Europaabgeordnete auch dauerhaft. Im Wahlkampf verkörperten sein noch amtierender Präsident Martin Schulz und dessen fünf Konkurrenten um den EU-Kommissionsvorsitz, dass das Parlament den Staats- und Regierungschefs künftig noch mehr die Stirn bieten will. Als einzig direkt gewählte Brüsseler Institution, so argumentieren die Abgeordneten, stehe es dem Parlament zu, mit Rat und Kommission auf Augenhöhe zu verhandeln. Erstmals in der Geschichte der EU wollen die Abgeordneten den nächsten Kommissionspräsidenten bestimmen, wählen dürfen sie ihn in jedem Fall.

Wenn man sich in den Ständigen Vertretungen danach erkundigt, wie sich der zunehmende Einfluss des Parlaments in ihrem Arbeitsalltag bemerkbar macht, ist die Antwort allenfalls ein etwas mitleidiges Lächeln. Motto: Die blasen sich mit ihren selbst ernannten Spitzenkandidaten gerade etwas auf, aber den Wanderzirkus - das Parlament tagt im Wechsel in Straßburg und Brüssel - nimmt doch keiner ernst.

Lange Zeit hieß es, die Ständigen Vertretungen seien die eigentlichen Gesetzgeber der EU. In Arbeitsgruppen bereiten die vor Ort angesiedelten Abgesandten der 28 Regierungen die Gesetzestexte vor. Sie handeln Kompromisse aus und stimmen sich so weit ab, dass die Minister und Länderchefs während der Ratssitzungen nur noch erscheinen und pro forma abstimmen müssen.

Seit dem 2010 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon werden auch die 751 Abgeordneten in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Lobbyisten haben das neue Potenzial sofort erkannt. Der Bauernverband zum Beispiel, die Interessenvertretung von 300 000 deutschen Landwirten, stockte sein Brüsseler Büro im Zuge des Inkrafttretens des Lissabon-Vertrags von zwei auf sechs Mitarbeiter auf. So wie der Bauernverband buhlen zwischen 10 000 und 40 000 Lobbyisten um die Gunst der Brüsseler Entscheidungsträger. Ihre genaue Zahl ist nicht erfasst, auch weil viele Verbände und Berater sich nicht in das »Transparenzregister« von Kommission und Parlament eintragen.

Bei den Staats- und Regierungschefs und den Ständigen Vertretungen ist die Botschaft vom gestiegenen Einfluss des Parlaments noch nicht angekommen. Sie wollen sich ihre Politik nicht vorschreiben lassen und verhandeln lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das gilt sowohl für die wichtigen Sitzungen der Botschafter der Ständigen Vertretungen als auch für die Ratssitzungen. Ein starkes Parlament empfinden sie als hinderlich. Offen sagen würden sie das jedoch nicht.

Die europäischen Volksvertreter, denen oft vorgeworfen wird, nicht wirklich etwas zu erreichen, trafen sich zwischen 2009 und 2014 zu 260 Plenartagungen und stimmten über 23 500 Mal ab. Sie nahmen dabei knapp 21 300 Änderungsanträge an und verwarfen fast 22 700. 2790 Rechtsakte wurden verabschiedet, davon über 1000 mit Gesetzescharakter.

Dabei stimmen die Europaabgeordneten nicht nur über die Gesetze ab. Sie haben auch die Möglichkeit, Prozesse in Gang zu setzen. Diese Erfahrung hat etwa Jürgen Klute gemacht. Der LINKE-Vertreter schaffte es, aus einer Initiative ein Gesetz zu machen. Seinem Einsatz ist es zu verdanken, dass jeder in Europa - auch Menschen im Asylverfahren, Auslandsstudenten und Bürger ohne feste Anschrift - seit wenigen Wochen ein Recht auf ein Konto haben.

Als Berichterstatter war Klute plötzlich ein gefragter Mann. »Ich bekam Einladungen vom Bankenverband in London, von der Schuldnerberatung in Wien, ich war in Griechenland und vielen anderen Orten«, erzählt der Nordrhein-Westfale. 900 Änderungsanträge bearbeiteten Klute und seine Mitarbeiter, um am Ende einen Text zu präsentieren, dem die Mehrheit der Abgeordneten zustimmen konnte.

»Bei der Arbeit im Parlament steht nicht eine Ideologie im Vordergrund«, erklärt der Noch-Abgeordnete, der aufgrund von innerparteilichen Dissonanzen nicht zur Wiederwahl steht, »sondern es geht um die Bedürfnisse der Bürger und konkreten Regelungsbedarf«. Für Klute ist die EU der größte zivilisatorische Fortschritt der letzten Jahrhunderte. Keine Institution symbolisiere diesen Fortschritt mehr als das Parlament.

Klute selbst hat diese Erkenntnis erst als Abgeordneter gewonnen. Er sei überrascht gewesen, wie viel möglich sei und wie demokratisch es zugehe. »Im Europaparlament kann man auch als kleine Partei etwas erreichen. Das ist ganz anders als im Bundestag«, so der 61-Jährige. Keine Partei habe die Mehrheit, also müssten für jedes Thema neue Allianzen geschmiedet werden.

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