Und außerdem ist Sommer ...

Zum Tod der Schriftstellerin Elfriede Brüning. Mehr als ein Jahrhundertleben - ein gelebtes Geschichtsbuch

Elfriede Brüning in ihrer Wohnung: »Ich mußte einfach schreiben, unbedingt ...« – so der Titel ihres Briefwechsels mit Zeitgenossen, ediert 2008.
Elfriede Brüning in ihrer Wohnung: »Ich mußte einfach schreiben, unbedingt ...« – so der Titel ihres Briefwechsels mit Zeitgenossen, ediert 2008.

Ein Raunen aus neunhundert Kehlen. Die hundertdreijährige Elfriede Brüning wird vom Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Berliner Stauffenbergstraße begrüßt. Das war am 1. Juli. Neun Tage später ist die Schriftstellerin Gast am Werderschen Markt. Die 1942 von den Nazis ermordete Widerstandskämpferin Ilse Stöbe ist endlich auch an der Ehrenwand im Auswärtigen Amt verewigt. Das Protokollfoto zeigt Elfriede Brüning mit Außenminister Steinmeier und Linkspolitiker Gysi. Sie lächelt, freut sich für ihre Gefährtin im Geiste, der diese Republik die Anerkennung lange, viel zu lange verweigerte. Elfriede Brüning ist Ilse Stöbe nie begegnet, ihre Wege hätten sich aber Anfang der dreißiger Jahre kreuzen können - auf den Fluren des später »arisierten« Editionshauses Mosse, »wohin ich manchmal klopfenden Herzens ging, um dem mächtigen Feuilletonleiter des ›Berliner Tageblatts‹ meine ersten literarischen Arbeiten anzubieten«, wie sie sich später erinnert. Elfriede Brüning hat Ilse Stöbe von der »Roten Kapelle« in ihren »Porträts vergessener Frauen« ein Denkmal gesetzt.

Es sind vor allem Frauenschicksale, nicht nur in der Nazizeit, die sie in den Mittelpunkt ihrer über 30 Bücher stellte. In »Lästige Zeugen?« schilderte sie die achtzehnjährige Gulag-Odyssee der Anni Sauer. Mitte der Siebziger lernte Elfriede Brüning die spät aus der Sowjetunion reemigrierte Kommunistin und Jüdin, jetzt Musik- und Tanzpädagogin im »Haus der Jungen Talente«, kennen. Brünings verschriftliche Tonbandgespräche mit Opfern des Stalinschen Terrors konnten erst im letzten Jahr der DDR erscheinen - »in jenem unsäglichen Jahr, als sämtliche Druckerzeugnisse der DDR, vom Klassiker über aufwendige Bildbände bis hin zum Kinderbuch, aus den Buchhandlungen verschwanden, sich auf Flohmärkten zu Billigpreisen prostituierten oder als wertloser Ballast, wie anderer Unrat, auf den Müllhalden langsam vermoderten«, schimpft Elfriede Brüning. Das Schicksal drohte auch ihrem Buch über Stalins Opfer. Es war Bücherpfarrer Weskott aus Katlenburg, der beherzt mit Lastwagen nach Halle fuhr und Tausende Exemplare aus einer dunklen Scheune rettete.

***

Elfriede Brüning, geboren am 8. November 1910 als Tochter eines Tischlers und einer Näherin, entdeckt ihre Liebe zum Scheiben im zarten Alter von acht Jahren; »ich kritzelte ganze Oktavhefte voll«. Als sie siebzehn ist, wird ihr erster Artikel gedruckt. Sie schreibt nicht nur für das hauptstädtische »Tageblatt«, auch für die »Vossische« und die »Frankfurter Zeitung« sowie die »Filmkunst«. 1932 tritt sie dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bei, ist das jüngste Mitglied der Gruppe Nord. Am Tag des »Judenboykotts«, am 1. April 1933, platziert der Vater ins Schaufenster seiner Leihbücherei eine Ausgabe des Alten Testaments mit Moses’ Geboten. Am 10. Mai 1933 verfolgt Elfriede Brüning auf dem Berliner Opernplatz ungläubig und erschüttert das gespenstisch-bedrohliche Treiben der Studenten der Friedrich-Wilhelms-Universität, die unter Femerufen Bücher der von ihr verehrten und geliebten Autoren in die Flammen werfen. Jahrzehnte später liest sie beim alljährlichen Gedenken aus verbrannten Büchern.

Im Frühjahr 1933 ist der »Bund« verboten. Die Hitler-Gegner treffen sich in der freien Natur, besprechen ihre literarischen Arbeiten und illegale Aktionen. Auch Elfriede Brüning schreibt Artikel für die von Wieland Herzfelde im Prager Exil herausgegebene »Stimme aus Deutschland«. Einige Male befördert das blonde Mädchen selbst antifaschistische Konterbande über die deutsch-tschechische Grenze. »Wir Schriftsteller vom ›Bund‹ waren nur ein Rädchen im Getriebe des Widerstandskampfes«, notiert sie später. »Aber auch unsere Arbeit, denke ich, ist nicht nutzlos gewesen. Gibt sie doch den nach uns Geborenen Kunde davon, dass es selbst in der finstersten Zeit Menschen gab, die sich bemühten, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu schreiben.«

Am 12. Oktober 1935 schlägt die Gestapo zu. »Ein Spitzel namens Felix hat uns verraten.« Auf dem Tisch im Verhörraum in der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße liegt ihr erstes ediertes Buch: »Und außerdem war Sommer«, ein Bestseller des Jahres 1934. Eine Liebesgeschichte à la Tucholskys »Rheinsberg«, zu der sie Jan Petersen, der väterliche Freund vom »Bund«, ermuntert hat. In der Einsamkeit der Zelle verfasst Elfriede Brüning unter den Augen der Gestapo ihren nächsten Roman: »Junges Herz muss wandern«. Es ist wohl vor allem ihrer jugendlichen Courage und Frechheit zu verdanken, dass sie nicht lange im Frauengefängnis Barnimstraße einsitzt. Die Anklage lautet auf »Vorbereitung zum Hochverrat«, aber sie tappt in keine der von den Gestapo-Leuten ausgeworfenen Fallen, mimt das naive »Mädel«. Nach der Entlassung 1937 heiratet Brüning den Schriftsteller Joachim Barckhausen; die Ehe stirbt im Krieg und wird nach dessen Ende in Schrecken geschieden. Nur noch ein Buch gelingt ihr in jener Zeit, da Deutschland und Europa im Würgegriff der Nazibarbarei stöhnen und bluten: »Auf schmalem Land«, über den Existenzkampf der Fischer auf der Kurischen Nehrung. Dann verstummt ihre Feder. Bis zum befreienden Mai 1945.

Zunächst ist sie wieder als Journalistin tätig, für den »Sonntag« und das Umsiedlerblatt »Neue Heimat«. Im Gründungsjahr der DDR kommt ihr Buch »Damit du weiterlebst ...« heraus, eine Hommage an die Frauen und Männer der »Roten Kapelle«, zu denen Ilse Stöbe gehörte. Und das 1942/43 hingerichtete Funkerpaar Hans und Hilde Coppi, mit deren im Gefängnis geborenen Sohn sie später in Freundschaft verbunden ist. Elfriede Brüning schreibt über Studenten einer ABF und wird kritisiert: »An unseren Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten gibt es nur klassenbewusste junge Menschen.« Sie schreibt über die doppelte und dreifache Last werktätiger Mütter, und es wird ihr vorgehalten: »Unsere Frauen werden nicht ausgebeutet. Und in einer sozialistischen Ehe kriselt es nicht.« Sie schreibt über schlimme Zustände in Kinderheimen und erntet erneut heftige Vorwürfe. Ja, die DDR ist ihr Staat, aber sie muss doch die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit schreiben.

Merkwürdiger Zufall: Mit Berta Waterstradt, einer Freundin aus den »Bund«-Jahren, Hörspiel- und Drehbuchautorin, befreundet mit Stefan Heym, Günter Kunert und Gustav Just, verbringt Elfriede Brüning zwei der dramatischsten Tage in der Geschichte der DDR: den 17. Juni 1953 und den 21. August 1968. Berta Waterstradt, nach deren Hörspiel Kurt Maetzig »Die Buntkarierten« dreht, hat die »Wende« noch miterlebt - und erste antisemitische Ausfälle. »Das hatten wir doch alles schon mal«, ist ihre jüdische Freundin beunruhigt.

An der unrühmlichen Versammlung des Schriftstellerverbandes am 7. Juni 1979 im Roten Rathaus von Berlin nimmt Elfriede Brüning nicht teil, sie hat eine Studienreise nach Spanien genehmigt bekommen. »Seither habe ich mir oft die Frage gestellt, wie ich mich wohl verhalten hätte. Hätte ich gegen den Ausschluss von Stefan Heym, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider und all den anderen gestimmt? Ich fürchte, ich hätte mich gleichfalls der Parteidisziplin gebeugt«, gesteht sie und empört sich noch drei Dezennien danach: »Wie konnte man einen Mann wie Heym, einen bewährten Antifaschisten, der nie seine Gesinnung verleugnet hatte, aus unserer Mitte verbannen?« Der einzige in der Runde im Rathaus, der gegen die Selbstamputation sprach, war Stephan Hermlin. »Wir haben alle geschwiegen. Geschwiegen gegenüber Loest, Harich, Havemann und den vielen anderen, die uns nahestanden und denen Unrecht geschah. Wir gingen mit Scheuklappen den ausgetretenen Pfad, hin zum vermeintlichen Ziel, und achteten dabei der Fußangeln nicht, die unsere Schritte behinderten.« Im Herbst ’89 geht auch Elfriede Brüning auf die Straße. Doch ihre und die Hoffnungen Hunderttausender sind rasch zerstoben. »Aber meine Sehnsucht nach Utopia und meine Hoffnung auf den endlichen Sieg der Vernunft sind nicht umzubringen.«

Nach der Vereinigung fällt es ihr zunächst schwer, Geschichten aufs Papier zu bringen. Die Schreibmaschine verwaist: »Ich lebe nicht wirklich in dieser Zeit. Mir ist, als bewege ich mich im luftleeren Raum, bin im Schwebezustand, atme wie unter einer Glasglocke. Ich weiß, dass sich draußen Tragödien ereignen. Die Zeitungen sind voll von Sensationsnachrichten.« Schließlich durchbricht sie den Kokon, schreibt über Arbeits- und Obdachlose, über mutig Streikende und die gierige Treuhand, über Mieter und Datschenbesitzer, die sich der Enkel von Alteigentümern erwehren müssen, über Genossenschaftsbauern, die nicht wieder allein die Äcker beackern wollen ... Und über am helllichten Tag und auf offener Straße gejagte Mosambikaner und Vietnamesen. »Was ist los mit den Menschen?«

Sie weiß, in der DDR war nicht alles eitel Sonnenschein. 1992 kommt ihr Report »Kinder im Kreidekreis« über Zwangsadoptionen und Heimerziehung in der DDR heraus. Elfriede Brüning weiß auch, die DDR ist an sich selbst zerbrochen. Doch: »Solidarität, scheint mir, hat noch ihren Stellenwert. Mit diesem Pfund sollten wir wuchern, zumal man uns so vieles von unserer DDR-Identität genommen hat. Aber Zusammengehörigkeitsgefühl, die Wärme und Gemeinsamkeit, die sollten wir in einer Gesellschaft, die nur aufs Geld fixiert ist, bewahren und kultivieren«, mahnt sie Ende der Neunziger in einem Text.

***

Am vergangenen Sonntag bestätigen sich Befürchtungen. Ich hörte, Elfriede sei im Krankenhaus. Ich wage dennoch einen Anruf bei ihr zu Hause. Tochter Christiane ist am Telefon. Ja, Elfriede ist wieder daheim. Nein, sie könne nicht ans Telefon. Sie würde sich aber sehr freuen, wenn ich sie besuchte. Am Montag öffnet mir Enkelin Jasmina. Elfriede liegt im Bett, zart und zerbrechlich, wie ich sie noch nie sah. Ich habe sonnengelbe Chrysanthemen mitgebracht. Zur Aufmunterung. Und außerdem ist Sommer. Ein wunderschöner Sommer. Elfriede blinzelt mir zu. Jasmina ermahnt mich leise: »Mach es ihr nicht schwer. Sie möchte gehen.« Ich erinnere mich. Schon vor Jahren sagte Elfriede: »Das Leben macht keinen Spaß mehr. Alle meine Freunde sind schon seit Jahren tot. Und auch die neuen Freunde sterben einer nach dem anderen.« Einsamkeit, Fluch eines hohen Alters? Aber sie hat doch Tochter, Enkelin und die Urenkel Jasper und Jonas. Und viele wohlgesinnte Leser und Leserinnen. Fast bis zuletzt bestritt Elfriede Lesungen.

»Ist diese Welt nicht furchtbar?«, fragt sie mich mit schwacher Stimme. »Diese verdammten Kriege.« Zwei Weltkriege hat Elfriede miterlebt. Sie kann das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung der Menschen nachempfinden, über die das Fernsehen ihr in den letzten Tagen berichtete. Für die Zeitungslektüre fehlt die Kraft. Im Flur stapeln sich ungelesen »neues deutschland« und »junge Welt«. Ich streichele ihre schmalen, papierweißen Hände. Elfriede nennt mir einige Namen, Gefährten der letzten Jahre, von denen sie sich gern verabschieden möchte. Ich verspreche, zurück in der Redaktion sofort ans Telefon zu eilen ... - Am Dienstagnachmittag hat Elfriede Brüning das Leben losgelassen.

*Alle Zitate stammen aus »nd«-Gesprächen oder aus der Autobiografie »... und außerdem war es mein Leben«.

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