Hitler und der Karneval

Irmgard Keun: In ihrem Roman »Nach Mitternacht« hat sie mit sublimsten Mitteln den Nazispuk entlarvt

  • Ewart Reder
  • Lesedauer: 3 Min.

Was für einen Start in die Literaturgeschichte hatte Irmgard Keun. Mit achtzehn Jahren besuchte sie eine Kölner Lesung des berühmten Alfred Döblin und brannte gleich mit ihm durch. Anderen Tags waren beide wieder auf ihren Plätzen, da hatte der eine schon zu der anderen gesagt: »Wenn Sie nur halb so gut schreiben, wie sie sprechen, erzählen und beobachten, dann werden sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat.«

Lassen wir die Superlative ruhen, nicht dagegen das verbreitete Vorurteil von der »einfachen« Schriftstellerin Irmgard Keun. Einfach? Von wegen! Mit allerraffiniertesten Mitteln entzaubert sie den nationalsozialistischen Turbo-Agitprop als ennuyante Show am Beispiel eines »Führerbesuchs«: »Manchmal wurden aus dem Meer von Menschen ohnmächtige Frauen von SS-Männern fortgetragen, dadurch wurde den Leuten in den Logenbalkons das Warten nicht zu langweilig.« Hitler auf dem Frankfurter Opernplatz spielt - da helfen keine Goebbels’schen Regietricks - gegen den Karneval. »Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand.« Das Enttäuschende ist das am Nazispuk Wesentliche, und es muss nur Mitternacht werden, bis der Letzte es empfindet.

Dabei macht es sich Irmgard Keun mit Hitler nicht etwa leicht. Wie Thomas Mann, in dessen Art visionär, zeigt sie am Diktator einen Zug, der in Manns »Der Erwählte« immer noch kaum beachtet wird: dass da ein Sexualkrüppel sein Volk mit verirrtem Trieb begehrt - und das Volk, das zuvor von seinen Eliten missbraucht wurde, sich, seinerseits verkrüppelt, von so einem »geliebt« wähnt. Keun wäre aber nicht Keun, wenn der Schwindel nicht jederzeit aufflöge. Die Blockwart-Tante Adelheid überzeugt an den Reden des Führers nur eins: wie sehr er schwitzt dabei. Reden könne auch Goebbels, »aber beim Führer sei die seelische Aufopferung«.

Mit allersublimsten Mitteln des Erzählens, der Illustration und Illusion nebst deren Aufhebung zeichnet die Autorin das Alltagsleben in NS-Deutschland. Susanna, die moselländische Heldin, sucht das Glück in Frankfurt am Main als einem ersten, durch familiäre Grausamkeit erzwungenen Exil. Auch ihr Geliebter Franz muss seiner Mutter, der Tante Adelheid in Köln, erst entkommen, will er Susanna das Glück bringen. Als er in Frankfurt anlangt, ist Deutschland mit den beiden schon fertig. Sie werden von der Polizei gesucht und haben ihre letzten Vertrauten an das Regime, den Selbstmord und verschiedene Liebespleiten verloren.

Keuns Texte folgen den schutzlosen Einzelnen. Das Großartige des Lebens, seine vereitelten Möglichkeiten bleiben eingefangen in den Sätzen der Dichterin. Ihren Erfahrungsschatz nahm sie mit, als sie 1935 in die Niederlande emigrierte, wohin auch Susanna und Franz ihr Glück zu retten versuchen.

In Amsterdam traf Irmgard Keun zahlreiche Emigranten, vor allen anderen Joseph Roth. Bald teilten die beiden ungleichen Flüchtlinge Bett und Caféhaustisch, kamen einander liebend und arbeitend näher, als das den meisten im Exil vergönnt war. Der epochale Stilbildner Roth gab dem Werk der kongenialen Kollegin den letzten Schliff. »Roth war damals nicht nur traurig, sondern auch noch der beste und lebendigste Hasser«, schreibt Keun. Wieder so ein fragwürdiger Superlativ. Was Irmgard Keuns Roman »Nach Mitternacht« traurig, poetisch und treffsicher über die Nazis ausplaudert, hätte ihnen schwer geschadet, wäre das Buch in Deutschland zu kaufen gewesen und von den Deutschen gelesen worden. Noch während eine Pariser Tageszeitung den Roman in Fortsetzungen veröffentlichte, bestach die Gestapo einen holländischen Polizisten, um die Autorin zu fassen - erfolglos.

Die Ironie und der Irrsinn der Geschichte wollten, dass Keun später unter falschem Namen in Deutschland den Untergang miterlebte. Anschließend vergaß die BRD sie in einer Bonner Dachwohnung.

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