Das Publikum brachte Shakespeare hervor
Warum sich das Stadttheater um die Leute und deren Sorgen kümmern sollte
Vielen deutschen Stadttheatern geht es finanziell nicht gut. Aber das deutsche Stadttheater bleibt doch etwas Einmaliges, es steht als flächengreifende Institution, einmalig in Europa, inzwischen sogar als Weltkulturerbe zur Diskussion. Es ist eine Frucht deutscher Kleinstaaterei: Jedem Kleinfürsten sein eigenes Versailles, jedem Klein-Versailles seine eigene Bühne. Erbe. Und Erbe hat nun mal einen musealen Anstrich, steht also in gewisser Weise gegen den Auftrag der Lebendigkeit, dem Theater auf besondere Weise ausgesetzt bleiben muss. Der renommierte Theatertheoretiker Hans-Thies Lehmann sprach dieser Tage in einem Zeitungsinterview vom »Auslaufmodell Stadttheater«; der reine Kunstwert sei Qualität, aber gleichzeitig Manko der Theater. Um die »Unterbrechung des Ästhetischen« gehe es. »Zum Theater gehört, dass es sich außerästhetischen Erfahrungen öffnet. Wo es nur Kunst ist, stirbt es.«
Es stirbt aber sehr langsam. Denn es lebt just aus dem heraus, wodurch es gleichzeitig gefährdet wird: seiner Trägheit. Die hat, auch wenn sie kränkelt, eine Nährmutter: die Subvention. Sie hält die Hand über ein Stadttheater, das getrieben und belastet wird von allem, was diese Moderne kennzeichnet: einem unsteten Ensemblegeist, einem rasant sich drehenden Intendantenkarussell, Quotendruck, Zwang zum Event, einer nervösen Flexibilität und ständigen Aufforderungen zur Legitimierung. Das Theater steht zerrissen zwischen dem Genuss seiner Privilegien, der Pflege seiner Errungenschaften und dem Kampf um seine Tarifverträge. Woher soll da der Mut kommen, Sicherungen wegzuwerfen, sich gleichsam selber immer wieder aufs Spiel zu setzen?
Wir leben in Zeiten des Bilanzdrucks, des Effizienzbeweises. Aber die Einschaltquote der Fernsehkultur zum Beispiel hat mit Demokratie so wenig zu tun wie demoskopische Erhebungen. Sie zeigt nicht, was das Publikum wirklich will, sondern dass es kein Publikum mehr gibt. Wenn sich das Theater der Anonymität dieses Nicht-Publikums unterwirft, gibt es sich auf. Wenn es sich aber wirklich auf das Publikum einlässt, dann muss es sich freilich auf mehr einlassen als nur auf den Theaterabend. Theater für Zuschauer setzt ein irgendwie gemeinsames Leben voraus. Also: Im besten (erbebewussten!) Sinne ist Stadttheater ein Theater der Polis. Auch wenn wir das gesellschaftlich nicht mehr sind: Das Gemeinschaftskunstwerk des Theaters blüht immer dann, wenn ihm sein Publikum als aktiver Partner gegenübersteht - ein Partner, der sich auch außerhalb der theatralischen Wirkungssphäre als Gemeinschaft empfindet. Eine fast schon utopisch zu nennende Fantasie? Unangebrachter Idealismus im Zeitalter der Zersplitterungen? Mag sein. Aber Theater lebt von - Vorstellungen. Stadt-Theater im wahren Sinn des Wortes heißt also: Ein Theater verwurzelt, verlässt seine Hermetik, kümmert sich weniger um sich selbst, sondern um die Leute und deren Sorgen. Ganz konkret, leidenschaftlich regional.
Die Wahrheit (und Zukunft?) des Stadttheaters ist das Lokaltheater. Ja, Theater als Lokaltermin. Dies ist das Gegenteil des Provinztheaters, dem das unmittelbar Umgehende, Heimische, Eigene ein Gräuel ist. Weil es glaubt, eben dies sei die Provinz - und dann wird es selber Provinz. Shakespeares Theater war Volks-Theater, in dem besonderen Sinne, dass er für die Leute und zugleich große Literatur schreiben konnte. Dass jene Zeit Shakespeare hervorbrachte, hieß auch, dass dieses Publikum Shakespeare hervorbrachte.
Das Theater verträgt die Entfremdung nicht, die ihm unsere Gesellschaft auferlegt - daher ist es um so nötiger. Und darf selber nichts Fremdes bleiben, dort, wo es sich anbietet. Dafür benötigt es Zeit, dafür muss man ihm Zeit lassen. Der griechischen Sage nach bekam der Riese Antäus seine Kraft, indem er seine Mutter berührte, Gäa, die Erde. Er konnte nur besiegt werden, wenn er in der Luft hing. Theater muss, will es Kraft haben, den Boden berühren. Den Boden, auf dem der Charakter einer Stadt sich ausbreitet. Und so auch der Charakter des Theaters.
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