Der die Welle macht

Sewan Latchinian über Selbstausbeutung, verflachenden Alltag und seine Schule des Denkens

  • Lesedauer: 10 Min.
Seit 2004 leitete Sewan Latchinian die Neue Bühne Senftenberg als Intendant. Am kommenden Montag wird er die Intendanz am Volkstheater Rostock antreten. Seine Aufgabe: das von Insolvenz und Schließung bedrohte Theater zu retten. Darüber, wie er das schaffen will, sprach Christina Matte mit ihm.

Herr Latchinian, Sie haben angekündigt, sich als Intendant neu zu erfinden, wenn Sie von der Neuen Bühne Senftenberg ans Volkstheater Rostock wechseln. Wieso das?
Latchinian: Es ist ein Unterschied, ob man in einem Einspartenhaus, in einer Region wie der Niederlausitz, in einem Jahrzehnt zwischen 2004 und 2014 Intendant ist, oder in einem Vierspartentheater mit Oper, Ballett, Schauspiel und Orchester in Rostock - und zwar in den Jahren von 2014 bis ungefähr 2020, in der Gefahr einer Insolvenz und Schließung. Ich werde hier ganz neue Kontinente auf der Weltkugel eines Intendanten betreten.

Sie hinterlassen in Senftenberg ein erfolgreiches, saniertes Theater, das momentan nicht schließbar ist, weil die Leute hingehen. Als Sie dort antraten, sah das noch anders aus. So neu kann Ihnen zumindest in dieser Hinsicht die Situation in Rostock nicht sein.
Das stimmt natürlich. In Senftenberg habe ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Methoden gefunden, den Prozess des Abgleitens des Theaters ins Bedeutungslose umzukehren, und 2005 sind wir, ein kleines Provinztheater, sogar »Theater des Jahres« geworden. Deshalb bringe ich auch Optimismus mit nach Rostock: Was in einer Stadt mit 27 000 Einwohnern möglich war, sollte in einer stolzen Hansestadt mit mehr als 200 000 Einwohnern, mit einer Universität und einer über 500-jährigen Theatertradition erst recht möglich sein: Wir werden eine Welle machen.

Sewan Latchinian

In der DDR hat Sewan Latchinian als Schauspieler unter Christoph Schroth am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin gearbeitet, wo er auch als Dramatiker mit dem Theaterstück »Grabbes Grab« debütierte. Bis 1997 gehörte er zum Schauspielensemble des Deutschen Theaters in Berlin, dort führte er mehrfach Regie. Nach Inszenierungen im carrousell Theater Berlin, an den Schauspielhäusern Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Leipzig, am Staatstheater Cottbus und am Münchner Volkstheater war er Oberspielleiter des Rheinischen Landestheaters Neuss.

Die Welle ist das neue Logo des Rostocker Volkstheaters?
Wir haben uns für die Welle entschieden, weil sie einerseits für das Maritime der Region steht, andererseits für unsere Leidenschaft, unseren Elan, unsere Ideen.

Und für Selbstausbeutung. Ohne die es auch hier nicht gehen wird.
Da besteht in der Tat eine Gefahr. Es darf nicht dazu kommen, dass wir, um Theater zu verteidigen und zu retten, neoliberale Strukturen der Ausnutzung von Menschen reproduzieren, die wir eigentlich überwinden wollen. Aber es ist auch Ausdruck dafür, dass wir nun in einer kulturloseren Zeit leben, dass im aktuellen Kapitalismus nach dem Wettlauf der Systeme in einem der reichsten Länder der Welt keine wirkliche Motivation mehr dafür existiert, in die Kultur zu investieren.

Nun muss man sich fragen: Was macht man da? Sagt man: Gut, dann gehe ich nicht an ein Theater, wo ich nicht das Geld vorfinde, das ich brauche? Riskiert man, dass das Theater geschlossen wird und geht an eines, das noch auf ist? Empfindet man es als seine Verantwortung, als eigenen inneren Auftrag, ein wichtiges Traditionstheater aus DDR-Zeiten vor dem Untergang zu bewahren?
Deshalb war mir Senftenberg als ehemaliges Theater der Bergarbeiter wichtig, und deshalb ist mir das Volkstheater Rostock wichtig, das unter Hans Anselm Perten eine fulminante Ära hatte. Und das sage ich als Junge, der in der DDR sozialisiert wurde, der in Leipzig aufgewachsen ist, an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin ausgebildet wurde und seine ganze Theaterbegeisterung dem Erlebnis des DDR-Theaters verdankt, das ja auch eine Tradition vor der DDR hatte: Ich empfinde den Auftrag, diese Tradition nach der DDR fortzusetzen. Und wenn es nur mit Selbstausbeutung geht - dann bitte! Mir wäre auch lieber, wir hätten ein paar Millionen mehr und könnten die Belegschaft ordentlich bezahlen.

Sie sprechen von kulturloseren Zeiten, in die wir geraten sind. Woran, außer an Kürzungen für Stadttheater, machen Sie das im Alltag fest?
Schaut man sich die Menschheitsgeschichte an, ist Kultur leider immer etwas, das durchgesetzt werden muss, und das Normale ist Barbarei. Jetzt kehren wir offenbar wieder zu einer normaleren, kunstärmeren Epoche zurück, die gerade eine Ausnahmeblütephase hinter sich hat. Diese hatte vor etwa 200 Jahren mit der Kleinstaaterei begonnen, war selbst im Dritten Reich aus ideologischen Gründen weiterbefördert worden, ebenso in der DDR und in der BRD im Wettlauf der Systeme. Und plötzlich merkten die Regierenden, es gibt scheinbar keine wirtschaftlichen und politischen Gründe mehr, Kultur wie bisher zu pflegen, und so wurden wir wieder auf das Normalmaß der Barbarei hinuntergezwungen. Und nun können wir im täglichen Kampf zwischen Kultur und Barbarei, den ich auch als demokratischen Prozess bezeichnen möchte, gucken, wie viel Kultur können wir bewahren, vielleicht auch erweitern.

Denn das, was der Markt regelt, ist eben nicht Kultur. Das ist Unterhaltung, und die ist oft kein Vergnügen, sondern Blödelei. Deshalb sprießt ja auch überall die Comedy aus dem Boden und verseucht alle Fernsehkanäle - und auch das Denken der Menschen. Es scheint eine neue Kommunikationsform zu sein, die auf Verkürzung hinausläuft: Indem man einen flotten Spruch sagt, ist man schlagfertig und hip und vermeidet hochkomplexe Diskussionen.
Unser Alltag verflacht: Es wird weniger gelesen, die Klassiker werden weniger aufgeschlossen für die nachwachsenden Generationen. Es ist ja eine vornehme Aufgabe des Theaters, die Klassiker noch einmal aus den gelben Buchdeckeln eines Reclam-Heftchens herauszuholen, sie plastisch zu erzählen. Beides verkümmert, wenn das Theaterangebot in einer Stadt nicht mehr existiert und das Lesebedürfnis oder aber die Geduld zu lesen, nicht mehr da sind. Dann versinkt ein ganzer Kontinent von Kultur vor unseren Augen und wird für die nachfolgenden Generationen ein nicht mehr hebbarer Schatz. Ohne dass sie den Verlust überhaupt bemerken.

Vorsicht, man könnte Sie einen Kulturpessimisten, einen alten Sack schimpfen. Die Jungen sind heute schnell dabei.
Es geht nicht darum, dass damals alles besser gewesen wäre. Es geht darum, welche bürgerliche Verabredung existiert. Was ist der Kanon, über den wir uns definieren, über den wir unsere Sprache miteinander vereinbaren, an dem sich auch unsere Werte orientieren. Und ich habe nicht das Gefühl, dass traditionelle Werte durch neue ersetzt werden. Mein Gefühl: Es gehen Werte verloren, und es kommen keine relevanten, adäquaten hinzu.

Welchen politischen Wert hat Kunst?
Der politische Wert von Kunst und Kultur besteht darin, dass sie dabei helfen, hochkomplexe, differenzierte dialektische Fähigkeiten zu entwickeln. Ich kann für mich sagen: Ich habe in der DDR ganz vieles durchschaut durch Kunst. Es hat mir keiner im Unterricht oder im Alltag gesagt, was da lief - es war die Schule zwischen den Zeilen, die Schule des dialektischen Denkens mit Bertolt Brecht und Heiner Müller. Wenn ich heute in die Schule und in manches Theater ginge, weiß ich nicht, ob ich fähig wäre festzustellen, dass hier eine Art Gleichschaltung passiert.

Vielleicht erkennen die Regierenden den politischen Wert der Kunst ja doch, und gerade deshalb ...
Auch das ist eine Möglichkeit.

Ein Kollege von Ihnen, der Mannheimer Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski, hat vorgeschlagen, den Solidaritätszuschlag künftig für die Kultur zu nutzen. Was halten Sie davon?
Ich hielte viel davon, wenn die Theater auskömmlicher ausgestattet würden. Aber die Variante, den Solidaritätszuschlag auf die Kultur umzuswitchen, den halte ich nicht für zu Ende gedacht und auch für übertrieben. Abgesehen davon, dass dies sowieso nicht mehrheitsfähig wäre, überschätzt sich die Kulturszene, wenn sie so etwas fordert. Kultur ist immer ein Minderheitenprojekt und soll sich aus sich selbst heraus legitimieren. Wird sie zu sehr alimentiert, gehen Impulse verloren. Dann muss man auch im Sinne von »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing« Theater machen. Nein, ich finde die Mischung, dass man einerseits subventioniert wird, andererseits auch von seinen eigenen Einnahmen lebt, ist ein gutes System.

Die Stammtische vertreten die Meinung, da Theater sowieso nur von einem Teil der Mittelschicht und der Oberschicht genutzt würde, sollte dieser sein Vergnügen auch selbst finanzieren - gänzlich unsubventioniert.
Da mag berechtigte Enttäuschung über das mitschwingen, was manche so in Theatern erleben. Ich würde versuchen, so eine Meinung auch als Selbstkritik produktiv zu machen: Was machen wir falsch? Machen wir genug richtig? Kann man überhaupt von »wir« sprechen? Gibt es nicht so viele unterschiedliche Theaterverständnisse in verschiedenen Städten, und gibt es nicht auch unterschiedliche Gegenden mit verschiedenen Problemen? Was in Bayern richtig ist, kann in Mecklenburg-Vorpommern völlig falsch sein.

Was für ein Theater braucht Rostock?
Eines, das diese Stadt intensiv bei der Suche nach der neuen Identität begleitet, die immer noch nicht gefunden ist. Es gibt einige Angebote, die ich aber nicht unterstützen mag. Zum Beispiel, dass es hier in erster Linie nur noch um Tourismus und um Shopping geht. Rostock braucht ein gesellschaftlich relevanteres, politischeres, vielfältigeres, energiegeladeneres Theater, eines, das unverzichtbar ist, eines, von dem man in der Stadtgesellschaft weiß, dass man etwas verpasst, wenn man nicht hingeht. Wir werden uns mehr Respekt vor dem Theater erarbeiten, einen Imagewandel herbeiführen. Die Bürgerschaft soll sehen, dass Volkstheater eben nicht nur für eine Oberschicht da ist, dass sich Volkstheater lohnt. Dann ist sie vielleicht irgendwann bereit, wieder mehr Geld für das Theater zu geben.

Warum kämpfen Sie für den Erhalt von vier Sparten?
Diese Sparten sind ja nicht entstanden, weil sie niemanden interessierten. Es ist in der menschlichen Natur so angelegt, dass man - wenn man darf - gerne ein Konzert erlebt, gerne Tänzerinnen und Tänzern zusieht, gerne auch mal Opernsängern zuhört. Ich habe noch nicht festgestellt, dass sich diese menschlichen Bedürfnisse geändert hätten. Es mag sein, dass ein paar junge Leute erst mal weniger in Opern gehen, aber es kommt darauf an, wie man die Opern modernisiert, es gibt tolle Beispiele. Natürlich gibt es auch furchtbare Gegenbeispiele. Aber wir reden ja davon, dass die Möglichkeiten zu bester Kunst erhalten bleiben sollen.

Diese Möglichkeiten werden aber gerade hinterfragt, wenn eine bayerische Agentur beauftragt wird, mit Steuergeldern aus Mecklenburg-Vorpommern Vorschläge zu machen, wie man für weniger Geld so tun kann, als habe man dann immer noch die gleiche Theaterlandschaft. Diese Agentur schlägt vor, mehrere Mehrspartenhäuser zu Einspartenhäusern zu machen. Wenn sich jedes Haus für eine Sparte entscheide, dann seien es zusammen immer noch vier Sparten. Das würden die sich in Bayern nicht trauen. Da würden sie vom Hof gejagt werden!

Und hier ist das jetzt die Anleitung zum Handeln. Leider wird der Vorschlag vom sogenannten Kulturrat in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt, der aus Angst, vor dem Tod Selbstmord zu begehen, den Minister darin bestärkt. Statt zu überlegen: Mecklenburg-Vorpommern ist das Bundesland, das die wenigsten Theater hat und am wenigsten Geld für sie ausgibt. Warum nicht etwas mehr Geld geben, um wenigstens die wenigen Theater zu bewahren. Aber wenn schon der Kulturrat den Kulturminister nicht mehr zwingt, die Werte und unbezifferbaren Qualitäten gegen andere Minister durchzusetzen, ist das eine Verflachung der politischen Kultur. Und selbst wenn man die kommerzielle Logik anlegt, ist es immer noch kurzsichtig. Kultur kostet, aber Unkultur kostet mehr. Was in der Kultur gekürzt wird, das muss im Sozialetat draufgelegt werden. Aber auch diese Fragen stellt keiner mehr. Weil das politische Denken nicht mehr stattfindet.

Was haben Sie sich für die nächste Spielzeit vorgenommen?
Wir führen die Idee des Spektakels ein, die es in Rostock noch nicht gibt. Jede Spielzeit werden wir mit einem »Stapellauf« beginnen. Es wird gesellschaftlich brisante Uraufführungen geben, darunter »Ingrid Babendererde« nach Uwe Johnson in einer Bühnenfassung von Holger Teschke und »Das Glückskind« von Steven Uhly. Die ARD verfilmt den Roman gerade, unsere Premiere wird vor der Fernsehausstrahlung kommen. Wir haben daran gearbeitet, die Rechte für das Buch von Swetlana Alexijewitsch »Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus« zu bekommen, das werden wir am 8. Mai 2015 zur Uraufführung bringen. Wir werden einen Rostocker Volkstheatersommer einführen, damit auch die Interessen von Touristen und Urlaubern im besten Sinne von uns bedient werden. Und wir werden zwei neue Sparten etablieren, die Bürgerbühne und das Figurentheater, das Karl Huck leiten wird. Wir werden sehr viel spartenübergreifend agieren, so dass die Synergien zwischen den Sparten bis in das Wirtschaftliche hinein genutzt, aber auch erlebbar werden. Denn die Fantasien, das Theater amputieren zu können, ohne das etwas fehlt, sind ja nur möglich, wenn nicht ein Bewusstsein dafür entsteht, dass man nicht nur verletzt, wenn man eine Sparte herauslöst, sondern tötet. Wir wollen beweisen, wie sehr das hier ein Volkstheater ist, dass wir ein, dass wir das Volkstheater sind. Wir wollen das Volk reinholen: Theater für alle, wenn auch nicht für jeden. Da gehören alle Generationen, alle Schichten dazu. Dazu gehört auch, dass wir noch mehr als in der Vergangenheit in die Stadtteile gehen. Lichtenhagen zum Beispiel ist eine offene Narbe, die thematisiert werden darf.

Viel Erfolg.

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