Die Guten waren nicht nur gut

Marie Jalowicz Simon: Atemlos liest man ihre Erinnerungen, wie sie als Jüdin 1940 bis 1945 in Berlin überlebte

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieses Buch legt man, wenn man zu lesen begann, nicht wieder aus der Hand. Es handelt von einem Abenteuer, aber von einem, das man niemandem wünscht: im Berlin der Nazizeit als Jüdin zu überleben. Über siebzig Kassetten hat die 1998 gestorbene Berliner Altphilologin und Philosophiehistorikerin Marie Jalowicz Simon mit Erinnerungen besprochen. Die Journalistin Irene Stratenwerth hat den Text in eine konsistente Form gebracht und Jalowicz Simons Sohn, Hermann Simon, hat ihre Angaben überprüft sowie ein Namensregister, Anmerkungen und ein Nachwort hinzugefügt.

Marie Jalowicz wurde 1922 in Berlin geboren. Ihre Mutter starb bereits 1938 an Krebs; ihr Vater, ein Rechtsanwalt, 1941. Für Siemens musste sie 1940 und 1941 Zwangsarbeit leisten. Anstrengend war das, aber die Vorarbeiter verhielten sich korrekt. »Unsere Erfahrungen mit diesen regulär bei Siemens beschäftigten Männern waren so gut«, sagt sie, »dass ich mich oft fragte: Wie konnte es zu dieser furchtbaren Judenverfolgung kommen? Es gibt hier eigentlich keine Antisemiten, die Leute sind doch alle nett.« Auch nach ihrem Untertauchen, beim ständigen Wechsel des Wohnortes, findet sie immer wieder Nichtjuden, die ihr helfen. Doch viele, bei denen sie für ein paar Wochen bleiben kann, nutzen ihre Situation aus. Reine Engel, sagt sie, habe es unter ihren Helfern nicht gegeben.

Bemerkenswert an diesen Erinnerungen sind nicht nur die vielen Details. Bemerkenswert ist auch die Nüchternheit, mit der sie ihr Leben als Illegale schildert. Immer in der Angst, deportiert und ermordet zu werden, musste sie mit Männern, die sie versteckten, auch ins Bett. Im Sommer 1942 lernt sie einen Bulgaren kennen und verliebt sich in ihn. Es gelingt, Fahrkarten und Visa für eine Reise nach Sofia zu besorgen. Doch durch einen unglücklichen Zufall wird Marie Jalowicz Simon in Bulgarien nach Deutschland ausgewiesen. Dann hat sie Glück: Der deutsche Chef der bulgarischen Arbeitsagentur ist kein Nazi und besorgt ihr Papiere. Papiere allerdings, mit denen sie nur nach Berlin zurückkehren kann. Die letzten drei Jahre bis kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee lebt Marie Jalowicz Simon mit einem holländischen Arbeiter zusammen. In dem Haus an der Oberbaumbrücke, in dem sie ein Zimmer bewohnen, wussten im Grunde alle Bescheid. Auch hier gab es Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihr das Leben zu retten. Gleichzeitig war sie den Launen ihrer Vermieterin, die sie wie eine Dienstbotin behandelte, völlig ausgeliefert.

Weil die Guten nicht nur gut waren, hatte Marie Jalowicz Simon am Ende ein ambivalentes Verhältnis zu einigen ihrer Helfer. Das gilt besonders für Johanna Koch, ohne deren gefälschte Kennkarte sie wohl nicht überlebt hätte. Koch war eine widersprüchliche Frau, die Marie Jalowicz Simon während der Untergrundzeit damit gequält hatte, dass sie immer wieder behauptete, sie seien ein und dasselbe Wesen, weil sie denselben Namen trügen und am selben Tag Geburtstag hätten. »Sie hatte mir einerseits ihre Identität geliehen und sich andererseits vollkommen mit meiner Familie identifiziert: In ihrem Bewusstsein war sie nicht Johanna Elisabeth Koch, geborene Guthmann, sondern sie war eine Jalowicz und damit Jüdin.« Nach dem Krieg brach der Kontakt zu Johanna Koch und ihrem Mann ab. Bis zuletzt, schreibt Hermann Simon, hätte seine Mutter Angst gehabt, »Johanna Koch könne überraschend vor der Tür stehen«. Es ist auch diese Erkenntnis, die »Untergetaucht« so erschütternd macht, die Erkenntnis, dass am Ende Marie Jalowicz Simon als Opfer von ambivalenten Gefühlen, von Dankbarkeit, Aggressionen, Schuldgefühlen und dem Bedürfnis, den Schrecken hinter sich zu lassen, noch lange gequält wurde.

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940- 1945. Bearbeitete von Irene Stratenwerth und Hermann Simon. S. Fischer Verlag. 416 S., mit Fotos, geb., 22,99 €.

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