Erinnerung - in Mestlin und anderswo
Die Ausstellung »Was ist die DDR für dich« im ehemaligen sozialistischen Musterdorf zeigt Bilder der Fotografin Bettina Flitner
Sie stellt Fragen. Sie bekommt Antworten. Aus Frage und Antwort macht sie ihre Kunst - fotografische Bilder. Bettina Flitner. Fotografin. Das erste Mal sah ich ihre Arbeiten auf der Haupteinkaufsstraße in Köln. Das ist zweiundzwanzig Jahre her. Die Bilder habe ich nie vergessen: überlebensgroße Figuren, Frauen, die ein Messer, eine Axt, eine Kalaschnikow schwenken. Leidenschaftlich, böse, entschlossen, vor allem lebendig. Die Bilder antworteten auf die Frage: Haben Sie einen Feind? Wenn ja, was würden Sie mit ihm tun, wenn Sie es ungestraft dürften? Bettina Flitner hatte sich auf die Straße gestellt und zufällig vorübergehende Passantinnen befragt und, wenn sie einverstanden waren, vor die Kamera gebeten. Nun standen sie vor mir, auf der Straße in Köln, die Rächerinnen, die einen Feind hatten. Ein Schock. Ich fragte mich, ob eine solche Ausstellung auch in Schwerin, Ludwigslust oder Anklam möglich wäre. Konfrontation mit der Wirklichkeit. NEIN. Warum eigentlich nicht? Die tagtägliche Wirklichkeit im Heimkino ist schrecklicher. Die Wirklichkeit im eigenen Kopf manchmal auch.
Im Sommer dieses Jahres geht mein heimlicher Wunsch in Erfüllung. Bettina Flitner stellt bei uns aus. Bei uns heißt nicht auf den Straßen von Schwerin, Ludwigslust oder Anklam, bei uns heißt: im Kulturhaus Mestlin. Es gäbe keinen besseren Ort.
Mestlin, im Landkreis Ludwigslust-Parchim gelegen, in den fünfziger Jahren als sozialistisches Musterdorf aufgebaut, mit Schule, Kindergarten, Krankenhaus, Konsum und LPG. Nach der Wende abgebaut und liegengelassen wie ungenutzter Hausrat. Mittendrin das Kulturhaus, neoklassizistischer Bau, Opernhaus-Volumen, ein bröckelnder Saurier. Zaun drum und Zettel dran mit der Aufschrift »Serengeti darf nicht sterben«, so der Ausspruch eines Journalisten nach der Wiedervereinigung auf die DDR bezogen, hätte auch für Mestlin gepasst - damals.
Aber die Wende ist schon Geschichte. Serengeti öffnet sich. Das Kulturhaus will nicht sterben. Seit 2008 gibt es den Verein Denkmal Kultur Mestlin; seit 2011 ist das Miracle-building anerkanntes Denkmal von nationaler Bedeutung. Noch kein Leuchtturm, aber Achtungszeichen im Hinterland des Weltgeschehens, das dank der Powertruppe vom Verein Denkmal Mestlin, Ehrenamtler allesamt, Kunst- und Kulturinteressierte aus dem Umland und auch aus der Welt anzieht - unter anderen die bekannte Fotografin Bettina Flitner.
Bettina Flitner kommt aus Köln. Sie ist 1961 geboren; in Köln, New York und Perugia zur Schule gegangen; machte eine Ausbildung zur Cutterin und studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Vorwiegend arbeitet sie als Fotografin. »Der Mauerfall war der Auslöser dafür, dass ich Fotografin geworden bin. Ich habe schon vorher fotografiert und auch ein erstes Buch gemacht. Aber als in Berlin plötzlich die Mauer fiel und so viel vor meinen Augen passierte, da habe ich erst richtig verstanden, was n als Fotografin alles machen kann. Das war im Sommer 1990. Ich hatte viele Monate auf dem Grenzstreifen verbracht und Menschen fotografiert, die ich zufällig im Niemandsland getroffen habe. Das war so unglaublich. Mit jedem Gesicht tat sich eine Welt auf. Ich fuhr danach in die Ferien, ans Meer und habe dort den feierlichen Entschluss gefasst: Ich will eine Fotografin sein.«
Die Fotografie von Bettina Flitner bewegt sich zwischen den Genres dokumentarischer Journalismus und inszenierte Fiktion. Immer stehen Menschen im Mittelpunkt ihrer Arbeiten. Es interessiert sie, was große politische Entwicklungen für den einzelnen Menschen bedeuten. Für ihr Projekt »Ich bin stolz, ein Rechter zu sein«, war sie in die Vorstädte von Berlin gefahren, hatte mit Jugendlichen gesprochen, die in Bomberjacken und Springerstiefeln steckten. Einige waren überzeugte Neonazis, andere eine Mischung aus Politik, Mode und Mitläufertum, die sich die Schnürsenkel auf deutsche Art binden wollten, parallel von Loch zu Loch. »Mit der Kamera habe ich einen Vorwand, alles zu fragen und zu erfahren. Es dann zu erzählen. Mit Fotografie oder mit Texten. Ich finde das großartig«, sagt sie.
Bettina Flitner hat Ost- und Westdeutsche im Niemandsland fotografiert, 1990, im Nachrausch der friedlichen Revolution, ist zu den Jugendlichen in die Berliner Vorstädte gefahren, zu den Freiern ins Stuttgarter Großbordell, hat Frauen mit Visionen, 48 Europäerinnen, ins Visier genommen.
Sie hat neun Bücher gemacht, ist in der Welt ausgestellt, mit Preisen und Auszeichnungen geehrt, eine große Künstlerin - das steht ihr nicht auf der Stirn geschrieben, sie trägt es auch nicht vor sich her. Wo immer sie die Szene betritt, ist sie eine wie du und ich. Ihre Fragen sind einfach. Jeder kann sie verstehen. »Ich stelle eigentlich immer nur die Fragen, die mich selbst interessieren«, sagt sie. Deshalb klappt es auch mit dem Dialog. So war es auch in Mestlin.
Im Sommer 2013, ein Generationenalter nach der Wende, reiste Bettina Flitner ins mecklenburgische Mestlin und hat dort mehrere Wochen gelebt. Sie suchte die Anknüpfung an ihre Erlebnisse im Niemandsland im Jahre neunzig. Ein Land war verschwunden. Weg. Nicht mehr gelistet. Und kaum jemand weinte. Aber die Leben in diesem Land waren doch gelebt, und die Erinnerung, wo war die? Bettina Flitner wollte es wissen.
Die Mestliner haben ihr die Türen und manchmal die Herzen geöffnet. Nach kurzer Zeit war sie schon die Fotografin des Dorfes, hat das Plakat für die Theatergruppe gemacht und die Schulanfänger mit ihren Schultüten fotografiert. Hat in den Wohnzimmern gesessen, ist mit denen, die dort zu Hause sind, auf die Dachböden gestiegen. Sie erzählt: »Mit Frau Nörenberg-Kolbow war ich auf dem Speicher. Wir steigen die engen Holztreppen hoch. An dem mit Girlanden dauergeschmückten Saal vorbei. Es wird dunkel, die Stiegen werden enger. Durch drei kleine Fenster an der Stirnseite fällt etwas Licht. Es fällt auf die Fahrtenbücher von 1975, es fällt auf eine Kiste Glühbirnen vom VEB Berliner Glühlampenwerk, und es fällt auf große Holzstäbe, die mit einem Gürtel zusammengebunden sind. Die sind aus dem Jahr 1945. Es sind die Stäbe, mit denen die Großbauern enteignet wurden. Auf der einen Hälfte liegt dicker Staub. Die andere Hälfte wird von einer Deutschlandflagge zugedeckt. Frau N. murmelt, hier bin ich zwanzig Jahre nicht mehr gewesen.«
Jubiläen sind vom Kalender gemacht. 2014 - 25 Jahre Mauerfall oder 2015 - 25 Jahre Wiedervereinigung. Jubiläumsausstellungen liegen im Trend. Man kann das Thema inflationär bedienen. Man kann Geschichte aufarbeiten. Kulturhaus Mestlin - eine Jubiläumsausstellung?
Bettina Flitner: »Die Begegnung mit den Mestlinern hat mich sehr bewegt. Ihre Erinnerung an das Leben in der DDR war bei einigen ganz weggepackt, in die hinterste Ecke des Kopfes geräumt. So als dürften sie sich ihr eigenes Leben nicht mehr ansehen. Wo genau sitzt eigentlich die Erinnerung? Vorne? Hinten? Tief drinnen? Es müsste doch ein Grundrecht auf Erinnerung geben. Das darf man nicht einfach klauen oder verbieten. Denn das eigene Leben ist nun mal das eigene Leben.«
An den Wänden des Kulturhauses hängen 36 Bilder. Fototafeln in der Größe von 1,50 x 1 Meter. Mit den Kommentaren der Porträtierten. Alt- und Neumestliner.
Erinnerung ist ein Reichtum. André Brie hat in seiner Laudatio zur Ausstellungseröffnung von Bettina Flitner den Philosophen Hegel zitiert. »Wenn man über sich nachdenkt, sich erinnert, dann zieht man den Reichtum hervor, der an sich in einem steckt.« Er fügte hinzu: »Wir haben eine Verantwortung für die Erinnerung. Anders können wir alle nicht sinnvoll leben und lernen.«
Bettina Flitner ist in der Welt zu Hause. Wenn sie aus der Ferne nach Deutschland kommt, gibt es immer wieder zwei Dinge, über die sie sich richtig freut. Über eine lange, heiße Dusche und darüber, dass es Gesetze gibt, auf die man sich grundsätzlich verlassen kann. Sie sind hier und da verbesserungswürdig, aber sie regeln das Zusammenleben der Gesellschaft, und das ist mehr, als es in den meisten Ländern gibt. Auch die Arbeit in Mestlin gehört zu ihrer Welterfahrung. »Ich habe etwas gelernt. Es scheint bei euch weniger Neid gegeben zu haben.« Bettina Flitner wünscht sich weniger Neid in der Welt. Neid ist eine Geißel. Überall, ob im afrikanischen Dorf oder im Reihenhaus in Hildesheim, gibt es Neid, Neid, Neid. Wir sehen heute überall auf der Welt, wohin das führt.
Wo sitzt die Erinnerung? Vorne? Hinten? Tief drinnen?
Fahnen und Büsten, Chroniken, Orden und Anstecknadeln, materialisierte Erinnerungen werden weggeschlossen. Menschliche Eigenschaften, Gefühle, erworben in der Gesellschaft, leben und sterben mit der Gesellschaft - umständehalber. Nein, Neid gab es wohl nicht so sehr in der DDR. Erinnern wir uns noch, warum?
»Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht - trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen.« Klaus Mann. Es hätte sich ja auch Brecht nicht an den Kuss der Marie A. erinnert, wenn nicht die Wolke dort gewesen wär’, sehr weiß und ungeheuer oben …
Die Ausstellung »Was ist die DDR für dich?« ist bis zum 25. September im Kulturhaus Mestlin, danach von Januar bis April in der Werkausstellung »Menschen« von Bettina Flitner in den Kunsträumen der Michael-Horbach Stiftung in Köln und möglicherweise im Sommer 2015 in Ludwigslust zu sehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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