Sieben Millionen irren durch Syrien
Die Zahl der Binnenflüchtlinge übertrifft die drei Millionen bei weitem, die es in die Nachbarländer geschafft haben
Syrien ist nur ein Beispiel: Menschen aus Bürgerkriegsländern suchen ihr Heil in den naheliegenden Nachbarländern, sofern sie nicht durch das eigene Land irren. Sieben Millionen Binnenvertriebene zählt das Land und drei Millionen - die Hälfte davon Kinder -, die es über die Grenzen in eine relative Sicherheit geschafft haben: zumeist in Nachbarländer wie die Türkei oder die arabischen Anrainerstaaten Libanon, Jordanien, Irak. Erst danach folgt mit weitem Abstand Ägypten und mit noch viel weiterem ferne Aufnahmeländer im reichen Europa.
Syriens sieben Millionen sind die höchste Zahl im internationalen Vergleich. Durch den Bürgerkrieg liegt Syrien inzwischen sogar vor Kolumbien, das seit 1964 einem bewaffneten internen Konflikt ausgesetzt ist, der trotz laufender Friedensverhandlungen anhält. Insgesamt verzeichnet der Jahresbericht 2014 des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die traurige Rekordzahl von 33,3 Millionen Binnenvertriebenen, die damit mehr als zwei Drittel der 45 Millionen Flüchtlinge Ende 2013 stellten.
Die desaströse Entwicklung in Syrien lässt sich in absoluten Zahlen kaum fassen. Plastischer wird es durch die Beschreibung des UNHCR, dass dort etwa alle 60 Sekunden eine Familie die Flucht ergreife, täglich mache der Krieg 9600 Syrer zu Vertriebenen im eigenen Land. Plastischer und dennoch eine unvorstellbare Dimension.
Ähnlich unvorstellbar sind die Relationen, die sich in den Hauptaufnahmeländern ergeben: Libanon hat rund vier Millionen Einwohner und mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Umgerechnet auf Deutschland wären das 20 Millionen Flüchtlinge. Deutschland beherbergt derzeit laut Eurostat 152 780 Flüchtlinge insgesamt, nur ein Bruchteil sind Syrer und Syrerinnen.
Libanons Bereitschaft, seine Grenzen trotz der damit einhergehenden Belastungen offen zu halten, hat mit eigenen Bürgerkriegserfahrungen zu tun. Der wütete im Zedernstaat von 1975 bis 1990, kostete mindestens 150 000 Menschen das Leben und trieb Hunderttausende in die Flucht. Die Libanesen wissen, was Bürgerkrieg bedeutet und familiäre und ethnische Bande gibt es in Teilen überdies. Sie bestärken die Gastfreundschaft. Dennoch mehren sich die Einschätzungen, dass das Land längst an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit gelangt ist. Und es mehren sich die Berichte über wachsende Aversionen, Konflikte und Übergriffe. Nur etwa ein Viertel aller syrischen Flüchtlinge ist in Lagern untergebracht. Weitaus die meisten leben in Dörfern und Städten und verschärfen dort notgedrungen die Konkurrenz um knappe Güter wie Wohnungen und Arbeit, auch wenn viele in improvisierten Behausungen wohnen und auf dem Wohnungsmarkt außen vor sind. Einkommen benötigen aber alle händeringend und dementsprechend billig unter Marktniveau bieten sie ihre Arbeitskraft feil. Das sorgt bei den Alteingesessenen für Unmut, der sich zuweilen in gewalttätigen Attacken auf die Zugewanderten niederschlägt. Dutzende Dörfer und Städte versuchen inzwischen, mit Ausgangssperren der Gewalt Einhalt zu gebieten.
Was die Situation in Libanon, aber auch in den anderen Hauptaufnahmeländern, überdies verschärft, ist, dass ein Ende der Krise nicht absehbar ist. Für eine Entspannung in Syrien gibt es keinerlei Anzeichen, für ein absehbares Ende des Bürgerkriegs ebenso wenig. Und das bedeutet im Umkehrschluss neue Flüchtlinge und neue Belastungen. Bereits vor einem halben Jahr wurde der 18-jährige Syrer Jehia vom UNHCR als offiziell millionster syrischer Flüchtling registriert. Jetzt lebt er mit seiner Familie am Rande von Beirut in einer angemieteten Garage. »Wir haben unsere Ausbildung verloren, wir haben unser Zuhause verloren, wir haben viele Mitglieder unserer Familie verloren. Jede Familie hat jemanden verloren. Der millionste Flüchtling zu sein, schockiert mich. Denn das zeigt, wie viele wir sind.«
Die politische Gemengelage in Libanon ist traditionell schon kompliziert, und seit dem Bürgerkrieg durch fragile Kompromisse halbwegs befriedet. Eine Garantie für die Zukunft ist das nicht.
In Jordanien leben die Flüchtlinge zwar in Lagern in Grenznähe, weil die Regierung vermeiden will, dass sie wie einst die palästinensischen zu dauerhaften Bewohnern werden, doch eine Rückkehr ist auch dort nicht absehbar. Die Türkei agiert bisher ambivalent: recht großzügig gegenüber syrischen Flüchtlingen - selbst kurdischer Herkunft -, aber alles andere als entschieden gegen den Islamischen Staat, dessen Kämpfer unbehelligt ein- und ausreisen können. Komplett die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern die reichen Golfstaaten von Saudi Arabien bis Katar. Dabei waren diese Länder ideologisch und finanziell die Paten des Islamischen Staates und sind es teils noch bis heute.
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