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Geschichten auf zwei Beinen
Hugo Hamilton begleitete Nuala O’Faolain kurz vor deren Tod nach Berlin
Zwei irische Schriftsteller, ein Mann, eine Frau, lassen sich von einem deutschtürkischen Chauffeur durch Berlin fahren und reden dabei. Reden, reden. Sie besuchen das Pergamonmuseum, die Staatsoper, den Botanischen Garten, die Gedächtniskirche, das KaDeWe, und sie residieren im Adlon. Geld spielt keine Rolle. Man möchte meinen, hier lassen es sich zwei Menschen gut gehen, die es sich eben leisten können.
Nachdem sie einmal im Café Einstein einen Apfelstrudel mit Vanillesoße verspachtelt und ein winziges Glas Leitungswasser hintergekippt haben, hinterlässt die Frau ein so üppiges Trinkgeld, dass die Kellnerin ihnen auf die Straße nachläuft. Ein Irrtum!, ruft sie entsetzt, es müsse sich um einen Irrtum handeln, sie könne das Geld, viel zu viel, unmöglich annehmen. Dann behält sie es doch. »Sie ahnte wohl, dass sie, ein kerngesunder Mensch, Geld von einem todgeweihten Menschen erhalten hatte, denn sie war den Tränen nahe. Sie winkte uns nach, als wir losfuhren.«
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* Hugo Hamilton: Jede einzelne Minute. Roman. Deutsch von Henning
Ahrens. Luchterhand. 352 S., geb., 18,99 €.
Hugo Hamilton, geboren 1953, hatte seiner krebskranken Freundin Nuala O’Faolain, geboren 1940, deren letzten Wunsch erfüllt: eine gemeinsame Reise nach Berlin. Beiden war klar, dass die Frau nur noch wenige Tage zu leben hatte. O’Faolain starb im Mai 2008 in Dublin, wenige Tage nach der Rückkehr aus Berlin. Hamiltons Buch »Jede einzelne Minute« hält diese letzten Tage fest. Das Erlebte. Das Besprochene. Das Erinnerte. Wer ein solch intensives Beieinandersein erlebt, der vergisst es nicht mehr. Es brennt sich ein, wie sich ein Lichtstrahl, gebrochen durch eine Lupe, in die Haut brennt.
Vielleicht liegt es im Wesen des Menschen, dass ihm eine Erinnerung nur halb so viel, oder gar nichts mehr, wert ist, wenn sie nicht geteilt werden kann. Vielleicht ist das der Grund, warum uns Hamilton nun, da seine mütterliche Freundin tot ist, an all den intimen Gedanken und Gefühlen teilhaben lässt. Aber warum nennt er Nuala O’Faolain in seinem Buch Úna? Warum heißt der Mann, der er selber ist, Liam? Warum steht »Roman« auf dem Umschlag dieses Buchs, das doch derart persönlich empfunden ist, so unmittelbar erzählt - ja, auch sentimental?
Elke Heidenreich, die Nuala O’Faolain den deutschen Lesern in ihrer Fernsehsendung bekannt gemacht hatte und ihr persönlich begegnet war, versucht sich im Nachwort an einer Antwort: »Hugo Hamilton hat, denke ich, diese erzählerische Distanz gebraucht, um auch das zu erzählen, was nicht geschah oder zwischen den Zeilen gesagt wurde. Um seiner Erinnerung nicht so trauen zu müssen, dass die Gefühle dabei zu kurz kämen. Es war eine gute Wahl, diese Geschichte als Roman zu schreiben.«
Liam beschreibt Úna als dominante, egozentrische, vereinnahmende, nicht unbedingt sympathische Person, deren Schatten ihn einerseits schützt, ihm andererseits Ehrfurcht einflößt, gar eine sanfte Angst. Diese Úna, Tochter eines berühmten irischen Journalisten, blickt auf ein Leben zurück, in dem sie sich rücksichtslos frei zu machen suchte von allen Fesseln des irisch-katholischen Umfelds, auch von ihren düsteren Kindheitserfahrungen als Tochter einer Alkoholikerin und eines Egozentrikers. Úna, absichtsvoll kinderlos geblieben, liebte lebenslang, wen sie wollte, Männer und Frauen, egal, ob sie verheiratet waren. »Es hatte sie so viel Kraft gekostet«, schreibt Hamilton, »aus ihrer eigenen Familienstruktur auszubrechen, dass sie keine neue schaffen wollte.«
Aus den lebendig geschilderten Eindrücken der Berlin-Besucher gleitet Hamilton immer wieder in Rückblenden, die uns auf Únas zahlreiche Reisen und ins Irland der Vergangenheit führen, in ihre Vergangenheit und in Liams auch, tief hinein in zerrüttete Familienverhältnisse, die ihre Spuren hinterlassen haben. Um jeden Preis will Úna den »Don Carlos« in der Staatsoper sehen, denn diese Geschichte des vom Vater ermordeten Sohns ist für sie verschmolzen mit der eigenen Geschichte. Dass ihr Bruder, von den Eltern verstoßen, den Tod fand, hat sie ihnen nie verziehen. Zögerlich mahnt Liam zur Versöhnung, aber die Todkranke bleibt hart: »Nein, sie würde niemanden vom Haken lassen, schon gar nicht jetzt.«
Úna hat ihre tragische Familiengeschichte in Büchern verarbeitet, eine schonungslose, ungeheuer erfolgreiche Art therapeutischen Schreibens. Die Leute, vor denen sie liest und spricht und schreit und weint, hängen förmlich an ihren Lippen. »Etwas aus dem Nichts zu erschaffen, ist fast unmöglich, sagt sie. Man erfindet nichts.« Und: »Wir sind nur Geschichten, keine Frage. Mehr nicht Liam, nur Geschichten auf zwei Beinen.« Man möchte meinen, Hugo Hamilton habe dieses Buch auch als Reminiszenz an dieses radikal autobiografische Literaturverständnis geschrieben. Aber dann steht da dieser Satz - wie eine posthume Emanzipation von der übermächtigen Freundin: »Ein Buch voller Erinnerungen kann den lebendigen Menschen nicht ersetzen, egal, wie viele Wahrheiten darin enthalten sind. Das ist es wohl, was ich zu sagen versuche.«
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