Der siebte Redakteur

Die Geschichte des Walter Timpe : Mit »Skandal-Artikeln« die Staatsmacht aufgebracht

»Der Abschied ist eine alltägliche Erscheinung. Man nimmt ihn morgens, bevor man zur Arbeitsstätte geht, von den Lieben daheim; vor einer Reise von der trauten Umgebung und bei der Hochzeit vom Junggesellendasein. Ebenso mannigfältig wie die Anlässe zum Abschied sind, gibt es auch alle möglichen Formen dafür. Man sagt "Ade", "Tschüs", "Wiedersehen", und natürlich auch der Kuß ist dabei sehr beliebt.
Ich nehme auch Abschied ... Für ein Jahr. Während dieser Zeit werde ich nicht in Hannover sein. Meine neue Anschrift lautet: Strafgefängnis Wolfenbüttel.«
Der dies am 24. März 1956 in seiner Zeitung, der »Neuen Niederrheinischen Volksstimme«, seinen Lesern kundtat, heißt Walter Timpe. Was hat er getan, dass er hinter Gitter musste? Wie ist er in die Fänge der Justiz geraten?

Der Jüngste
Mit 2333 Strafprozessen vom 1. Oktober 1951 bis zum 1. Mai 1956 sowie 1858 Monate Gefängnis- und 14 593,40 DM Geldstrafen halte die niedersächsische Justiz, »was Gesinnungsurteile anbetrifft«, einen unrühmlichen Rekord im Bonner Rechtsstaat, vermeldete die »Neue Niedersächsische Volksstimme« am 17. August 1956, jenem Tag, an dem das KPD-Verbot erging. Und die Zeitung forderte: Freiheit für alle politischen Gefangenen, Einstellung aller anstehenden Verfahren, Löschung aller verhängten Strafen im Strafregister. Zugleich wird selbstbewusst verkündet: »Redakteure der "Volksstimme" lassen sich nicht unterkriegen.«
Man schaut in die Gesichter von neun zu mehrmonatiger Gefängnishaft verurteilten Journalisten, darunter Walter Timpe. Er ist der Jüngste mit seinen 23 Jahren. In einer Randspalte auf der Zeitungsseite gibt es von ihm einen »Geburtstagsgruß aus dem Gefängnis« zum zehnten Jahrestag des Blattes. Ein entlassener Mithäftling hat diesen in die Redaktion gebracht.
Kontakte zur Außenwelt sind Walter Timpe nur in sehr begrenztem Maße möglich, Besuche werden selten gestattet. Selbst die Zeitung, für die er geschrieben hat, das KPD-Organ »Die Wahrheit/ Neue Niedersächsische Volksstimme«, darf er nicht beziehen. »Was mich hart getroffen hat«, sagt mir Walter Timpe. Er hat einen Antrag auf Sondergenehmigung gestellt. Doch die Gefängnisleitung lehnte ab.
Noch mehr schmerzte ihn, seine Mutter leiden zu wissen. »Sie hat immer wie eine Löwin um ihren Sohn gekämpft«, bemerkt er stolz. Sein Vater war in Folge eines Arbeitsunfalls gestorben, da war Walter Timpe gerade mal achtzehn. Selbst nach seiner Blinddarmoperation - zu jener Zeit wahrlich noch nicht so unkompliziert wie heute -, hat die Mutter ihn nicht besuchen dürfen. Die Anfrage wurde von der Gefängnisleitung und vom Generalstaatsanwalt Fritz Bauer abschlägig beantwortet. Was heute verwundern mag, ist doch Bauer als ein durchaus ehrenwerter und aufrichtiger Sozialdemokrat bekannt; knapp ein Jahrzehnt später wird er den berühmten Frankfurter Auschwitz-Prozess einberufen. »Daran kann man sehen, wie weit und tiefgreifend die westdeutsche Gesellschaft schon wieder vom Antikommunismus durchdrungen und wie groß die Verwirrung war, dass es Hassgefühle selbst bei Leuten gab, bei denen man das nie vermutet hätte. Das Gift des Kalten Krieges hat verheerend gewirkt«, erläutert Walter Timpe.

Bewaffnet in den OP
Als er mit akuter Blinddarmentzündung von der Haftanstalt ins Krankenhaus gebracht wurde, hat man ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt. Die ihn begleitenden Gefängniswärter wollten sogar im OP-Saal anwesend sein, mit geladener Pistole im Halfter. Das ließ sich der diensthabende Chirurg nicht gefallen. Empört verwies er die Wächter des Raumes: »Wo gibt es denn so etwas?! Bei mir jedenfalls nicht. Raus!« Noch heute erinnert sich Walter Timpe an den couragierten Arzt mit Bewunderung und Dankbarkeit.
Der 1931 in Hannover als Sohn eines Arbeiters bei Hanomag (Baumaschinen-Hersteller) und einer Stenotypistin geborene, seit April 1949 der FDJ und KPD angehörende Walter Timpe hatte seinen ersten Zusammenstoß mit der Staatsmacht Anfang Oktober 1950. Da hat er die Prügelstöcke der Polizisten zu spüren bekommen und war das erste Mal verhaftet worden - bei einer Demonstration des »Komitees Junger Friedenskämpfer« in Hannover. Die jungen Leute hatten gegen Adenauers Remilitarisierungspolitik protestieren wollen. Weil sie unter Krieg gelitten hatten. Als sich das Ende des NS-Reiches abzeichnete, war der vierzehnjährige Walter Timpe in einem Lager in Polle an der Weser für Hitlers »letztes Aufgebot« gedrillt worden. Doch er durfte bald erleben, »wie sich die Wehrmachtsoffiziere, die uns gerade noch gepredigt hatten: "Lever doot as Sklav!", in die Büsche schlugen.«
Die Bilder des Krieges, die Tiefflieger, die Bomben, die vielen Toten und Verstümmelten, haben sich unauslöschlich in die Erinnerung eingebrannt. Als der Schulunterricht wieder aufgenommen wurde, kamen auch in Walter Timpes Schule britische Offiziere und hielten Vorträge über Krieg und Faschismus. Re-Education. Dieser hätte es für den jungen Timpe nicht bedurft. Er hat u. a. Anna Seghers »Siebtes Kreuz« gelesen.
Der Oberstaatsanwalt, dem Walter Timpe in seinem ersten Prozess 1950, auf Grund seiner Teilnahme an der Friedensdemonstration, gegenüberstand, hieß Wilhelm Landwehr und war Oberkriegsgerichtsrat bei der 5. Panzerdivision der Hitlerschen Wehrmacht gewesen, hatte Todesurteile in Kopenhagen gefällt. Und Nazi-Richter waren es auch, die den Kommunisten fünf Jahre später erneut aburteilten: Oberstaatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach, dereinst am berüchtigten faschistischen Sondergericht Kattowitz, sowie Richter Konrad Lenski, ehemaliger Kriegsgerichtsrat beim Reichskriegsgericht in Leipzig und später bei einem Feldgericht in Straßburg. »Blutbefleckte Juristen, die polnische Widerstandskämpfer und französische Résistance-Angehörige ohne mit der Wimper zu zucken in den Tod schickten, durften auch in der Bundesrepublik weiter Unrecht sprechen. Und auch über mich ihren Stab fällen«, empört sich Walter Timpe noch heute.
Bei seinem »ersten Mal« ist er noch glimpflich davongekommen, saß zwei Tage im Gefängnis und erhielt »nur« eine Geldstrafe. Bei seinem »zweiten Mal« wurde ihm ein Jahr Haft aufgebrummt. Seine Enthüllungen Nr. 1 und Nr. 2 in der »Wahrheit« über zwei Polizei-skandal-Prozesse in Hannover haben für Aufsehen gesorgt und die Staatsgewalt gegen ihn aufgebracht. Seine Artikel hatte er zwar mit dem Kürzel »wati« gezeichnet - »nicht weil ich mich verstecken wollte« -, dennoch war er bald enttarnt.
Als am Dienstag, dem 30. April 1955, sein Prozess vor der 4. Großen Strafkammer beim Landgericht Lüneburg eröffnet wurde, machte die »Wahrheit« groß auf mit der »Wahrheit in Sachen Timpe« und verlangte in fetter Schlagzeile: »Schluss mit der Verfolgungskampagne gegen DIE WAHRHEIT«. Walter Timpe war mittlerweile der siebte Redakteur der Zeitung, der vor die Schranken dieses Lüneburger Sondergerichts gezerrt worden war. Die Zeitung klagte an: »Zum siebten mal wird hier demonstriert, wie Pressefreiheit und Recht auf freie Meinungsäußerung, wie das Grundgesetz mißachtet und gebrochen wird. Zum siebten Male schleppt man das Organ vor den Kadi, soll ein Redakteur verurteilt werden, weil er die Wahrheit sagte und schrieb. Vergessen wir nie, daß es bereits einmal mit Gesinnungsprozessen begonnen hat.«
Das Blatt rief die Gesellschaft zur Solidarität auf. Allzuviele fanden sich damals dazu nicht bereit. Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung malochte für das »Wirtschaftswunder« und glaubte wieder eher an eine »drohende Gefahr aus dem Osten« und eine »Fünfte Kolonne der Soffjets«, wollte nicht zur Kenntnis nehmen, welch groben Schaden die junge bundesdeutsche Demokratie nahm. Einzig die Heilsarmee bewies christliche Nächstenliebe mit den politischen Gefangenen. »Sie gaben uns auf dem Gefängnishof ein kleines Konzert. Ihr Halleluja war wohltuend«, gesteht der Atheist. »Sie haben sich sogar mit dem Gefängnispersonal angelegt. Unsere Wärter sollten bedenken, dass auch wir Menschen seien.«
Walter Timpe wurde nach seiner Haftentlassung mit drei Jahren Berufsverbot belegt. Er war ein Jahr als Hilfsarbeiter in einer Offset-Druckerei tätig, später Versicherungsangestellter, dann mehrere Jahre Betriebsrat und Aufsichtsratsmitglied und schließlich zwölf Jahre ehrenamtlicher Richter beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen und noch einmal zwölf Jahre beim Bundesarbeitsgericht. Seit 1948 ist er Mitglied der Gewerkschaft HBV, jetzt ver.di. Er hat in Tarifkommissionen so manchen Strauß mit »Arbeitgebern« ausgefochten. Spektakulär war sein Einsatz für Chemiespezialisten, die aus ihrem Forschungsinstitut entlassen worden waren, weil sie sich nicht an Chemiewaffenforschung beteiligen wollten. Die Kündigung musste zurückgenommen werden.
In jüngster Zeit engagiert sich Walter Timpe vor allem für die Belange der Senioren, jener Menschen, die von der Politik und den sich ihr anbiedernden Feuilletonschreibern nur noch als Last und Bürde dieser Republik beschrieben werden. Er ist Mitglied des Präsidiums des Bundesseniorenausschusses von ver.di.
Im Juni 2001 erhielt Walter Timpe das Bundesverdienstkreuz. Für seinen langjährigen Einsatz für die Interessen und Rechte der »Arbeitnehmer«. Wertet er diese höchste Auszeichnung der Bundesrepublik als eine Art Rehabilitierung und Entschädigung für das ihm 1950 und 1955 angetane Unrecht? »Nein, das nicht. Aber es ist eine kleine Geste, eine Art Hofknicks des Staates, den ich für angemessen halte. Ich halte auch nichts davon, diese Auszeichnung abzulehnen, nur weil sie vom Staat kommt, der derselbe ist, der uns damals hinter Gitter gebracht hat.«
Walter Timpe erhielt den im Auftrag des Bundespräsidenten verliehenen Orden aus den Händen von Walter Riester: »Auf meine Zugehörigkeit zur KPD anspielend, habe ich ihn gefrotzelt: "Der Verfassungsschutz ist wohl auch nicht mehr das, was er war?" Da antwortete er mir: "Glauben Sie mir, es wird alles genaustens geprüft." Das heißt, man hat heute doch eine andere Sicht auf die Dinge, die damals geschehen sind.« Und Walter Timpe erzählt mir vom Empfang von Opfern politischer Verfolgung in der Bundesrepublik beim vormaligen Justizminister von Niedersachsen, Christian Pfeiffer.

Riesters Pirouette
Sodann kommt er noch einmal auf die Ordensverleihung in Berlin zurück. Er hatte sich nicht verkneifen können, den Minister aus Schröders Kabinett auf dessen größte »Glanzleistung« hinzuweisen. »Ich habe ihm gesagt, diese Rente, die ja nun für ewig seinen Namen tragen wird, sei das komischste, was je ausgebrütet und vom deutschen Gesetzgeber verabschiedet worden ist. Da hat Riester eine Pirouette gedreht und mir trotzig erwidert: "Sie werden sehen, die Leute werden noch begeistert und dankbar sein!"« Der Kommentar des »siebten Redakteurs« dazu: »Das ist Humor im Klassenkampf!«
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