Kein Netzwerk mehr für Zuckerkranke

25 Jahre nach dem Mauerfall bekommen im Osten mehr Menschen Diabetes als im Westen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Zu den sich rasant ausbreitenden Volkskrankheiten gehört der Diabetes mellitus. Über sieben Millionen Deutsche sind betroffen. Doch das Risiko, an Diabetes zu erkranken, ist unterschiedlich verteilt.

Der Gesundheitszustand der Deutschen in Ost und West hat sich in den letzten 25 Jahren in vielen Bereichen angenähert. Das geht aus einem 2014 veröffentlichten Bericht des Robert Koch-Instituts hervor. Lebten in den frühen 1990er Jahren die Frauen im Westen im Schnitt 2,3 Jahre länger als die Frauen im Osten, ist dieser Unterschied heute praktisch verschwunden. Bei den Männern lag die mittlere Lebenserwartung im Westen 3,2 Jahre über jener im Osten. Inzwischen sind es nur noch 1,4 Jahre. Auch was die Fettleibigkeit (Adipositas) betrifft, gleichen sich Ost und West immer mehr an. Bei den Männern haben die alten die neuen Bundesländer mittlerweile sogar überholt, allerdings auf relativ hohem Niveau: 1992 waren im Westen 17,3 Prozent der 25- bis 69-Jährigen fettleibig, heute sind es 24,6 Prozent. Im Osten stieg der entsprechende Anteil von 21,7 auf 23,9 Prozent.

Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt es dagegen bei der Zahl der Diabetes-Neuerkrankungen, wie eine Studie des »Kompetenznetzes Diabetes mellitus« zeigt, die auf den Daten von knapp 9000 Personen aus fünf verschiedenen Regionen beruht. Zwei Erhebungen fanden in den neuen Bundesländern statt, im Raum Halle sowie in Vorpommern. Die anderen wurden an Standorten in den alten Bundesländern durchgeführt: in Dortmund, im Raum Augsburg und in Essen/Bochum/Mülheim.

Diabetes mellitus ist bekanntlich eine chronische Stoffwechselerkrankung, die zu einem erhöhten Blutzuckerspiegel führt. Heute unterscheidet man im Wesentlichen zwei Typen von Diabetes: den eher seltenen Typ 1 und den verbreiteten Typ 2, der in etwa 95 von 100 Fällen von Diabetes vorliegt. Bei Typ 1 handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, die mit der Zerstörung der Insulin bildenden Zellen der Bauchspeicheldrüse einhergeht. Um den dadurch ausgelösten absoluten Mangel an Insulin zu kompensieren, müssen die Betroffenen das fehlende Hormon lebenslang spritzen. Diabetes Typ 2 beruht hingegen auf einem relativen Insulinmangel. Das heißt, die Bauchspeicheldrüse produziert zwar Insulin, doch dieses kann an den Membranen der Körperzellen nicht mehr richtig wirken. In der Folge nehmen vor allem die Muskeln, die Leber und das Fettgewebe zu wenig Glucose aus dem Blut auf. Die Bauchspeicheldrüse gibt daraufhin immer mehr Insulin ab, bis sie sich schließlich erschöpft und nicht mehr fähig ist, den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren.

Was sind die Ursachen für eine solche Insulinresistenz? Ganz oben auf der Liste der Risikofaktoren steht ein durch falsche Ernährung bedingtes Übergewicht. »Der Typ-2-Diabetes ist eine Wohlstandserkrankung«, sagt Wolfang Kerner, Direktor der Klinik für Diabetes und Stoffwechselerkrankungen in Karlsburg (Mecklenburg-Vorpommern). »Wir essen zu viel und zu kalorienreich, gleichzeitig bewegen wir uns zu wenig.«

Die neue Studie bestätigt diesen Zusammenhang: So wurde im Raum Halle mit 16,9 Neuerkrankungen pro 1000 Personen und Jahr der höchste Zuwachs an Typ-2-Diabetes registriert. Tatsächlich gehört Sachsen-Anhalt seit der Wende zu jenen Bundesländern, in denen prozentual die meisten fettleibigen Menschen leben, während Bayern und Baden-Württemberg am unteren Ende der Skala rangieren. Im Raum Augsburg gab es entsprechend die wenigsten Diabetes-Neuerkrankungen (9,3). »Genau genommen handelt es sich um ein Nordost-Süd-Gefälle«, meint Ulrike Rothe, Privatdozentin an der Medizinischen Fakultät der TU Dresden und Sprecherin der AG Epidemiologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Denn auch in Vorpommern wurde eine hohe Zahl an Neuerkrankungen festgestellt.

Es sei an dieser Stelle zumindest erwähnt, dass vor dem Mauerfall die Zahl diabetischer Kinder im Osten nur halb so hoch war wie im Westen. Der Berliner Endokrinologe und emeritierte Charitéprofessor Günter Dörner führt den damaligen Erfolg der DDR auf das spezifische Betreuungssystem für Diabetiker zurück. So gab es etwa in allen Kreisen Behandlungsstellen für »Zuckerkranke«, die in der Regel von einem Facharzt für Innere Medizin geleitet wurden. Zudem fanden Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Diabetes statt und - was besondere Beachtung verdient: Durch eine optimierte Diagnostik und Therapie von Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes konnte die Häufigkeit von Kindesdiabetes (Typ 1) bereits in den 80er Jahren regional auf etwa ein Drittel reduziert werden. Um die Zahl der Neuerkrankungen in der gesamten DDR zu erfassen, führte das »Zentralinstitut für Diabetes« in Karlsburg ab 1960 ein weltweit einzigartiges Register, das zum Leidwesen vieler Mediziner 1990 geschlossen wurde. Und auch das Betreuungssystem für Diabetiker brach nach der Wende im Osten zusammen - mit Folgen, die jetzt offenbar werden.

Denn die Ergebnisse der neuen Studie deuten darauf hin, dass sich die Häufigkeit des Typ-2-Diabetes nicht allein auf individuelle Faktoren wie Übergewicht zurückführen lässt. Strukturelle Faktoren (Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen etc.) erhöhen ebenfalls das Risiko für Diabetes. »Wir wissen, dass die Erkrankungshäufigkeit in wirtschaftlich schwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit höher ist«, so DDG-Sprecherin Rothe. Hinzufügen könnte man noch, dass gerade in solchen Regionen oftmals ein chronischer Ärztemangel herrscht.

Trotz aller Klagen über die Ausbreitung des Typ-2-Diabetes liegt Deutschland in der Prävention und Früherkennung der Erkrankung in Europa weit zurück. Dabei hatte das Forum »gesundheitsziele.de« bereits 2003 in einem Bericht eine Reform der Diabetes-Vorsorge angeregt. Passiert ist danach lange nichts. Erst jetzt hat das Bundeskabinett dem Entwurf eines Präventionsgesetzes zugestimmt. Bei der DDG bleibt man dennoch skeptisch: »Das Präventionsgesetz wird zum Scheitern verurteilt sein, wenn es nicht gelingt, statt einer Ausweitung der Projektitis zu einer nachhaltigen Veränderung von Strukturen zu kommen.«

Nicht der Diabetes an sich ist dabei das größte Problem, denn der lässt sich relativ gut beherrschen. Gefährlich und oft sehr teuer in der Behandlung sind die Folgeerkrankungen, allen voran die diabetische Nephropathie (DN), eine Nierenschädigung, die im fortgeschrittenen Stadium ohne Dialyse oder Nierentransplantation unweigerlich zum Tod führt. Wird diese Erkrankung jedoch frühzeitig erkannt, lässt sich ihr Fortschreiten therapeutisch aufhalten. Das derzeit modernste Diagnose-Verfahren hierzu ist die Urin-Proteom-Analyse (UPA), deren allgemeine Anwendung vielen an DN erkrankten Menschen die schwere Last einer Dialyse ersparen könnte. Bislang jedoch steht das neue Verfahren nur selbstzahlenden Patienten zur Verfügung. Zwar hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung bereits 2011 eine Bewertung der UPA beantragt. Bis diese allerdings in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen eingehen wird, sind nach Meinung von Experten noch erhebliche bürokratische Hürden zu überwinden.

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