Der skeptische Aufklärer

»Wir sind auch noch da«: Vor 125 Jahren wurde Kurt Tucholsky geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Er war siebzehn, als 1907 seine erste kleine Satire erschien, anonym, ein paar Zeilen nur, das Märchen vom Kaiser, der eine Flöte mit einer wunderlichen Eigenschaft besaß. Man konnte, wenn man in eins der Löcher blickte, Werke moderner Malerei sehen. »Und was machte der Kaiser damit?«, fragte der Autor. »Er pfiff drauf.« Das war, natürlich, auf Wilhelm II. gemünzt, den obersten Kunstbanausen des Landes. Da, im Jahr seines externen Abiturs, war schon klar, wohin es einmal gehen könnte. Er schrieb danach für den »Vorwärts« und das »Prager Tageblatt«, fand 1913 zu Siegfried Jacobsohn und seiner »Schaubühne« (die unter seiner Mitwirkung 1918 »Die Weltbühne« wurde), schaffte 1912 mit »Rheinsberg« einen erstaunlichen Erfolg und verstummte, als man ihn in den Soldatenrock steckte. Er hatte Glück und landete in einer windstillen Ecke des Krieges, im Kurland, betreute die Bibliothek, redigierte ein Blättchen, das seine Kameraden bei Laune hielt (und an sich halten musste, weil es der Zensur unterlag), wurde nach Rumänien versetzt, wo es schon brenzliger wurde, und war froh, als alles vorbei war und er nach Berlin zurückkehren konnte. Unter ein Foto, das ihn in Uniform zeigt, hatte er geschrieben: »Seh ich nicht aus wie ein beleidigter Clown? Bin ich auch.«

Aber das war gestern. Jetzt war 1919, es hatte eine Revolution gegeben, der Kaiser war nach Holland geflohen, eine neue Zeit brach an, und Kurt Tucholsky, der ein paar Jahre lang allenfalls Späße fabriziert hatte, warf die Clownsmaske weg und zeigte, was in ihm steckt. So selbstvergessen, wie es schien, so weltenfern hatte er die letzten Jahre gar nicht verbracht, es war schließlich Krieg gewesen, und er hatte nicht weggesehen. Er begann im Februar 1919 gleich mit einer großen Serie: »Militaria«. »Worauf es uns ankommt«, schrieb er zum Auftakt, »ist dies: den Deutschen, unsern Landsleuten, den Knechtsgeist auszutreiben ..., der keine sachliche Unterordnung will, sondern nur blinde Unterwerfung. Unser Offizier hat schlecht und recht seinen Dienst getan …, und wir haben auszufressen, was ein entarteter Militarismus uns eingebrockt hat.«

Und dann führte er sie vor, die »Kerle«, die er aus dem Kasino kannte, ihre maßlose Arroganz, ihr Denken, ihre Exzesse, ihre Revanchegelüste, die willfährige Justiz, die sich das Recht zurechtbog und alles Linke gnadenlos verfolgte, die Studienräte, die die Dolchstoßlegende in die Köpfe der Jungen pflanzten, die Literaten, die den verlorenen Krieg heiligsprachen, die Politiker, die die Verächter und Feinde der Republik ungestraft gewähren ließen. Mit Verve, Witz, Ironie, hellsichtig wie wenige warf er sich in den Kampf: gegen Unrecht, Mord, Lügen, Heuchelei, gegen »Deutschland« und seinen Weg ins Verderben, für die einfachen Leute, für Heinrich Mann und Arnold Zweig, für Deutschland, eines ohne Anführungszeichen.

Kein anderer Schriftsteller hat damals so intensiv, mit so viel Ausdauer, Eleganz und Sprachkraft die deutschen Verhältnisse kommentiert, wieder und wieder, Woche für Woche, in Gedicht und Prosa, und selbst als er 1924 als Korrespondent nach Frankreich ging, schleppte er sein Land mit. Im Gedicht »Park Monceau« hatte er zwar aufatmend behauptet, von seinem Vaterland nun auszuruhen, aber daraus wurde nichts. Siegfried Jacobsohn, der in Berlin-Charlottenburg die Geschicke der »Weltbühne« lenkte und auf die Frankreich-Berichte seines liebsten Mitarbeiters wartete, hat ihn bald daran erinnern müssen, dass man ihn nicht nach Paris geschickt habe, damit er sich weiter mit den deutschen Angelegenheiten befasse. Tucholsky hat die Kritik, so gut es ging, beherzigt und fortan mal über einen Kabarettabend, eine Theateraufführung, ein Buch oder den Alltag in der Stadt geschrieben, im Grunde jedoch blieb alles beim Alten: Er wohnte in Paris und war mit seinen Gedanken in Berlin.

Das aggressivste, wütend bekämpfte, selbst von Freunden kritisierte Buch, in seiner politischen Wucht potenziert durch die Fotomontagen John Heartfields, publizierte Tucholsky 1929 im Neuen Deutschen Verlag von Willi Münzenberg: »Deutschland, Deutschland über alles«. An den Schluss stellte er einen Text mit dem Titel »Heimat«, ein Bekenntnis: »Ja, wir lieben dieses Land. Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.«

Ende 1929, im November, kam Tucholsky, früh schon als »dreckiger Judenjunge« beschimpft, noch einmal nach Deutschland, um eine ausgedehnte Lesereise zu absolvieren. Es ging gut bis zum Schluss. In Wiesbaden jedoch tobten die Nazis, zogen anschließend einen Mann aus dem Auto, den sie für den Autor hielten, und verprügelten ihn. Im Brief an seine Frau Mary, die inzwischen wieder in Berlin lebte, spielte Tucholsky den Überfall herunter, schloss jedoch mit dem Satz: »Aber man meeg das nicht mehr.« Er zog sich nun nach Schweden zurück, mietete 1930 ein Haus, reiste nach England, Dänemark, Frankreich und immer wieder in die Schweiz. Deutschen Boden hat er nicht mehr betreten. Im August 1933 stand er, gemeinsam mit Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Ernst Toller, auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nazis.

Erst spät, als auch Tucholskys Briefe zugänglich waren, konnte man sehen, wie sehr alle Angriffslust, das enorme publizistische Feuer zunehmender Müdigkeit abgetrotzt war, einer wuchernden Skepsis, die sich nicht mehr verlor. Die Zweifel kamen früh, und sie kamen immer wieder: Lohnt sich der ganze Aufwand eigentlich, all diese Mühe, dieser Einsatz, dieser Kampf? Die Deutschen, schrieb Tucholsky bereits Ende 1918, sind unbelehrbar. »Sie wollen das nicht hören, sie wollen die Wahrheit nicht hören, und sehen alle nur ihren Geldbeutel und haben das Domestikenblut in den Adern.« Er machte weiter, ein pessimistischer Aufklärer, wie Hans Mayer sagt, er ließ nicht locker, noch nicht, aller Bedenken, der peinigenden Nasenbeschwerden, der inneren Unruhe zum Trotz.

Die Schreibmaschine klapperte ohne Unterlass, und als ihm Herbert Ihering im Herbst 1929 vorwarf, immer wieder auf dieselben Themen loszuschlagen, immer wieder dasselbe Militär, dieselbe Justiz zu attackieren, und dies alles aus sicherer Entfernung, als Zuschauer von draußen, da machte Tucholsky, der auf Kritik sonst kaum reagierte, eine Ausnahme. »Ich habe mir im letzten Jahr vieles in Deutschland angesehen«, antwortete er, »worüber ich nirgends referiert habe; und was mich erschreckt hat, das ist die Fortdauer einer wilhelminischen Gesinnung, die zwar die Zierrate des Gardehelms abgelegt hat, aber in karger neuer Sachlichkeit brutal und kalt Schweinereien verüben läßt, schlimmer als unter dem Seligen …«

Doch die Fragen blieben. Er habe Erfolg, schrieb ein verzagter, ermatteter, zunehmend verbitterter Tucholsky, aber keine Wirkung: »Ich richte ja auch nichts aus.« Er zog sich aus den Tageskämpfen nun langsam zurück, entwarf noch einmal mit erstaunlich leichter Hand eine Sommergeschichte, die luftige, heitere Erzählung von einem Liebespaar, das vergnügt und ausgelassen ein paar Tage im Schloss Gripsholm verbringt, nur war diesmal nichts mehr so ungetrübt wie damals, als sich Claire und Wolfgang vor der Kulisse von Schloss Rheinsberg amüsierten. Plötzlich, von vielen Lesern unbemerkt, meldete sich überraschend der politische Tucholsky zu Wort. Dann stoßen seine beiden Helden auf ein Kinderheim, das von einer kalten Despotin geführt wird, die alles ihrem Willen unterwirft, die die Kinder knetet und quält, die alles beherrschen will und vorwegnimmt, was in der NS-Frauenschaft bald schon Realität werden wird. Als »Schloss Gripsholm« 1931 vorlag, war die Kraft verbraucht, der Mut zerrieben, die Leidenschaft erloschen. Der Grund zu kämpfen, schrieb Tucholsky, seit 1933 ohne Publikum, der Lebenssinn fehlt. Am 21. Dezember 1935, drei Wochen vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag, nahm er das Gift. In einem Göteborger Krankenhaus ist er noch am selben Abend gestorben.

Literatur:

Klaus Bellin ist Autor des Buches »Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky«, Aufbau Verlag, 230 Seiten, br., 9,99 €.

Kurt Tucholsky: Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte
Zur Entstehungsgeschichte und Montagetechnik von »Deutschland, Deutschland über alles«

Veranstaltungstipp: »Hol dir dein Recht im Klassenkampf!« Tucholsky, Münzenberg und die Arbeiter Illustrierte Zeitung, Dr. Ian King lässt einige Tucholskys Werke Revue passieren. Montag, 12.1, 18.30 Uhr, Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung, FMP1.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.