»Wenn ich spielte, war das Leben schön«
Wie der Ghetto Swinger Coco Schumann Theresienstadt und Auschwitz überlebte
Mit seiner Frau Gertraud wohnte Coco Schumann bis 1963 in Friedenau. »Wir hatten einen Cocker-Spaniel und sind jeden Tag hierher rausgefahren, um mit dem Hund spazieren zu gehen. Eines Tages sagte ich zu meiner Frau: Lass uns umziehen.«
Zweistöckige Reihenhäuser im Bauhausstil, bunt gestrichen, mit einem winzigen Vorgarten. An manchen Fassaden bröckelt die Farbe. Die Siedlung Onkel Toms Hütte entstand auf dem Reißbrett von Bruno Taut. Der heute fast vergessene Architekt ist von den Nazis als »Kulturbolschewist« seiner Professur und Mitgliedschaft in der Akademie der Künste beraubt und ins Exil getrieben worden, starb 1938 in Istanbul. Er hat nicht mehr miterleben müssen, dass die SS sich in seiner Siedlung einquartierte - während des Krieges, als Coco Schumann im KZ Theresienstadt für die SS aufspielen musste.
Der 1924 geborene Sohn einer Friseurin und eines Tapezierers hat autodidaktisch Gitarre und Schlagzeug gelernt. Als Dreizehnjähriger hört er erstmals Ella Fitzgerald, ihre Platte »A tisk-it a task-it« ist sein Erweckungserlebnis. Jazz und Swing werden seine Leidenschaft, lassen ihn nicht mehr los. Coco Schumann spielt bereits als Minderjähriger in Jazz- und Swingbands. Wie gelang ihm dies in einer Zeit, da den Juden Musizieren verboten war, sie nicht einmal Konzerte und Opern besuchen, keine Radiogeräte und Grammophone besitzen durften? »Wir hatten zu Hause ein Rundfunkgerät und auch ein Grammophon mit Kurbel. Denn mein Vater war ja arisch, nach der Rassenlehre der Nazis.«
Die Mutter ist jüdisch, Coco Schumann nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 ein »Geltungsjude«. Dabei ist seine weit verzweigte Familie eine ganz normale deutsche Familie. »Unsere Mischpoke war gemischt: Juden heirateten Arier. Und auch in der Clique, in der ich spielte, waren viele Mampe«, sagt Coco Schumann. Mampe? 1831 hatte ein königlich-preußischer Geheimer Sanitätsrat namens Carl Mampe aus Kräutern und Schnaps ein Mittel gebraut, das gegen Cholera helfen sollte. Es wurde ein beliebtes Getränk. Während der Nazizeit nennen sich jüdische »Mischlinge« nach dem Magenbitter. Coco Schumann weist auf eine Flasche in der Vitrine seines Wohnzimmers: »Neulich schenkte mir einer ›Mampe - Halb und Halb‹.«
Coco und seine jüdischen Freunde spielen trotz Verbot. Und sie spielen verbotene Musik in Bars und Tanzlokalen, so im »Groschenkeller«. Das Haus steht noch heute, Kantstraße/Ecke Leibnizstraße. »Der Wirt gab uns stets ein Bier aus.« Ein buntes Publikum trifft sich dort allabendlich: Bierkutscher, Künstler und vor allem Studenten. »Die schützten uns. Ein Student stand oben an der Treppe, einer unten. Wenn die von der Reichsmusikkammer kamen, pfiff der oben und dann der unten. Wir ließen die Notenblätter verschwinden, stiegen um auf ›Rosamunde‹ oder andere gerade angesagte Schlager.«
Musste Coco Schumann nicht eine Steuernummer angeben, um das Honorar für seine Auftritte zu erhalten? Der Veteran bejaht und erzählt: »Ich war in einer italienischen Band, die für den Film ›Die Philharmoniker‹ engagiert wurde. Als Gage gab es pro Tag 100 Reichsmark. Das war viel Geld und wurde gleich nach jedem Dreh ausgezahlt. Da musste man eine Steuernummer oder eine Adresse angeben.« Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Juden war jegliche Gewerbetätigkeit untersagt, ergo hatten sie keine Steuernummern. »Ich schaute ins Telefonbuch und entdeckte einen Heinz Schumann, Chauffeur, in der Chausseestraße wohnhaft. Dessen Adresse gab ich an.« In Coco Schumanns Geburtsurkunde steht der Vorname Heinz Jakob. Eine französische Verehrerin konnte das »H« nicht aussprechen, taufte ihn auf »Coco«, was ihm anfangs gar nicht gefiel. »Als ich erfuhr, dass Coco nicht nur Gockel, sondern auch Früchtchen und Liebchen heißt, war ich versöhnt.«
Im 1942/43 unter der Regie von Paul Verhoeven gedrehten Film »Die Philharmoniker« spielt Coco Schumann freiwillig und freudig mit. Nicht so im perfiden Propagandastreifen »Theresienstadt. Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet«. Fragmente sieht der damals zwangsrekrutierte Statist nach 1945. In der Stube hängt ein Szenenfoto, das ihn am Schlagzeug zeigt. Im März 1943 hat Coco Schumann die Aufforderung erhalten, sich bei der Kriminalpolizei zu melden. »Irgendjemand hat mich angezeigt, ich würde verbotene Musik spielen und mit arischen Frauen flirten; mein Gott, ich war blutjung.« Die Kripo konnte ihm nichts nachweisen. »Entlassen konnten sie mich aber auch nicht, sie mussten mich der SS überstellen, da ich Stern-Träger war.« Coco Schumann kommt ins »Durchgangslager« in der Großen Hamburger. Sein Vater sucht den SS-Obersturmführer auf, redet auf ihn ein: »Ich bin Deutscher, war im Krieg 14/18 Offizier und habe versucht, meinen Sohn deutsch zu erziehen. Schicken Sie ihn bitte nicht nach Auschwitz, schicken Sie ihn nach Theresienstadt.« Er konnte den SS-Mann erweichen. »Man wusste damals schon, dass es in Auschwitz schlimm ist, aber nicht, wie schlimm es in Auschwitz ist«, sagt Coco Schumann. »Theresienstadt galt als Vorzugslager. Außerdem waren dort bereits meine Großeltern.« Tatsächlich trifft er sie im Ghetto an. Sie werden wenig später nach Auschwitz deportiert. »Sie kamen sofort ins Gas.«
Im September 1944 wird auch Coco Schumann nach Auschwitz deportiert, zusammen mit den »Ghetto Swingers«. Die Band ist im Januar 1943 in Theresienstadt vom tschechischen Jazztrompeter Eric Vogel mit Genehmigung der SS gegründet worden. Man nimmt den jungen, virtuosen Gitarristen und Schlagzeuger aus Berlin gern auf. Zum Repertoire der »Ghetto Swingers« gehören Count Basie, Duke Ellington, George Gershwin. »Wenn ich spielte, vergaß ich, wo ich war. Die Welt schien in Ordnung, das Leid der Menschen um mich herum verschwand - das Leben war schön.« Sie müssen natürlich vor allem spielen, was sich die SS wünscht, und das ist »Rosamunde«. Was empfindet er, wenn er die Schnulze heute hört? »Ich sag’ immer, was kann ein Lied dafür?« Später, in Auschwitz, wollen die Schwarzuniformierten wieder und wieder »La Paloma« hören. »Ich habe lange gerätselt, warum.« Lag es am Text: »Einmal wird es vorbei sein …«? Mit dem »Tausendjährigen Reich« der Nazis ist es bald vorbei. Das wollen die SS-Männer freilich nicht wahrhaben. »Erst nach Jahren ist es mir schlagartig klar geworden, als ich ›Große Freiheit Nummer 7‹ gesehen habe«, sagt Coco Schumann. Das Lied, das Hans Albers im 1944 produzierten Streifen singt, war bei den Wachmannschaften in der Todesfabrik Auschwitz ein Hit. Warum auch immer.
Von wem hat Coco Schumann eigentlich sein musisches Talent geerbt? »Von Onkel Artur. Er war Friseur und spielte nebenbei vor dem Krieg in einer Zigeunerkapelle Schlagzeug. Er ist rechtzeitig nach Bolivien ausgewandert.« Auch in Auschwitz gab es eine Zigeunerkapelle, weiß Coco Schumann. »Einen Tag, bevor wir aus Theresienstadt ankamen, hat man alle Zigeuner vergast. Wir kamen ins ehemalige Zigeunerlager.« Hat er bei seiner Ankunft in Auschwitz gedacht, das sei sein Ende? Nein. »Als wir aus dem Viehwaggon ausstiegen, sahen wir die rauchenden Schornsteine und glaubten, das sind Fabriken. Bis ein SS-Mann kam und sagte: ›So, ihr Saujuden, damit ihr wisst, wo ihr seid: Ihr seid im Vernichtungslager Auschwitz. Hier ist der Eingang, der Ausgang für euch ist der Schornstein.‹ Da wussten wir, wir sind in der Hölle angekommen.« Coco Schumann ist fest entschlossen, zu überleben. »Die Musik half mir dabei.« Auch wenn es unzumutbare Auftritte sind, die den »Ghetto Swingers« befohlen werden. Sie spielen, bei der Ankunft neuer Totgeweihter, beim Tätowieren der Häftlinge, beim Abmarsch der Arbeitskolonnen zu den Außenkommandos und wenn die SS ihre Mordstatistik feiert.
Im Januar 1945 geht es auf »Transport« nach Bayern, im April wird Coco Schumann von US-Truppen befreit. Er spricht ungern über die Vergangenheit. »Das ist vorbei.« Oder doch nicht? »Die Aufmärsche, die es wieder gibt, machen mir Angst«, sagt der Shoah-Überlebende und versinkt in nachdenkliches Schweigen. Dann greift er zur Gitarre und erzählt, wie schön es war, als er Marlene Dietrich begleiten durfte. Und wie unvergessen ihm die Konzerte mit Ella Fitzgerald und Louis Armstrong sind. Als Berliner Bub hätt’ er sich nicht träumen lassen, dereinst mit Ella auf der Bühne zu stehen. Der 90-Jährige seufzt: »Das Leben war entsetzlich grausam und unglaublich gut zu mir.«
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