Wendepunkte des Lebens
Perspektive deutsches Kino: Es ist das Jahr der Frauen
Es gibt wieder saftige Genre-Premieren in der Berlinale-Vitrine für den einheimischen Filmnachwuchs, vor allem aber ist eins auffällig in diesem Jahr: Die interessantesten Filme handeln von Frauen. Anne Ratte-Polle ist die ungekrönte Queen der »Perspektive«, mit Hauptrollen in gleich zwei Werken, in denen ihre Rolle den Filmtitel abgibt: dem Horrorstück »Sibylle« und dem Resozialisierungsdrama »Wanja«. Und die Dokumentarfilme der Sektion stehen den Spielfilmen in nichts nach.
Jung-Filmerin Lisa Sperling, 2011 mit einem eher ungelenken Dokumentarfilm zum Protest gegen den Stuttgarter Bahnhofsbau im Berlinale-Progamm (»Stuttgart21 - denk mal!«), haben ihre Jahre an der Hochschule für bildende Künste Hamburg gut getan. Im einstündigen Filmessay »Sag mir, Mnemosyne« folgt sie den filmischen und privaten Spuren eines 2009 verstorbenen Großonkels, der in Griechenland und den arabischen Emiraten als Kameramann tätig war. Sie filmt an Orten, die auch er einst durch die Linse seiner Kamera betrachtete, spricht mit Weggefährten und Händlern, die meinen, sich an ihn erinnern zu können, und spinnt aus Bildern, Worten und Ausschnitten »seiner« Filme eine Chronik seiner Auslandsjahre. Vor allem aber handelt ihr Film von der Flüchtigkeit eines Lebens, von dem wenig mehr bleibt als eine leere Wohnung,, verblassende Eindrücke und Tagebucheinträge. Und im besten Fall: Licht und Schatten auf ein paar Filmstreifen.
In »Sprache: Sex« von Saskia Walker und Ralf Hechelmann kann man mal »live und in Farbe« hören (nein, sehen nicht, hier geht es strikt um allerdings sehr schön situierte und gefilmte Interview-Situationen), was sich im literarisch-künstlerisch hippen Biotop rund um die Berliner Kastanienallee so tut an physischer Liebe und dem seelischen Umgang damit. Absolut lebensentscheidend aber wird die Frage um Körperlichkeit und Geschlecht in einem anderen Film: im halbstündigen »Hakie - Haki. Ein Leben als Mann« porträtiert Anabela Angelovska eine muslimische Albanin, die ihrem Geschlecht und der Liebe abschwor, um in einer erzkonservativen Gesellschaft den elterlichen Hof übernehmen zu dürfen.
Inzwischen 71 Jahre alt, bekommt Hakie die Spätfolgen ihrer Entscheidung zu spüren. Wer in die Jahre kommt, braucht die Hilfe der Kinder, die sie als weiblicher Hofhalter nach den ehernen Traditionen, dem »Kanun«, nicht haben durfte. Die Arbeit wird ihr schwer, die Schwägerin aus der Stadt kommt gelegentlich helfen - und auch das internationale Medieninteresse ist mittlerweile groß an Frauen wir ihr, die sich Burrnesha nennen, geschworene Jungfrauen: Frauen in Männerkleidung, mit kurzen Haaren und wettergegerbten Gesichtern, die »Männerarbeit« verrichten. Ein verstörendes Zeitdokument, das eine Gegenwart abbildet, die man so eigentlich nicht wahrhaben möchte. Dass es sie trotzdem (geografisch so nah) gibt, beweist gleich noch ein zweiter Film der Berlinale, Laura Bispuris »Vergine giurata« (»Geschworene Jungfrau«) im Wettbewerb.
Die Frauen, die Filippa Bauer für ihren Abschlussfilm an der Kunsthochschule für Medien Köln über ihr Leben sprechen ließ, haben nie vor einer derart gravierenden Grundsatz-Entscheidung gestanden wie Hakie. Sie haben Beruf, Partnerschaft und Kinder unwidersprochen vereinbaren können. Trotzdem sind sie im mittleren Alter noch einmal vor die Frage gestellt, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Die »Freiräume«, die sich in ihrem Alltag neu ergeben, haben die erwachsen gewordenen Kinder hinterlassen, die Partner, die im Laufe der Jahre verloren gingen. In vier 15-minütigen, namentlich bezeichneten Kapiteln lässt Bauer die Frauen selbst davon erzählen, wie es sich anfühlte, als die Kinder gingen, was aus ihren Zimmern wurde - eine vermietet unter, eine hat sich dagegen entschieden. Eine Andere freute sich zum Entsetzen der Tochter, jetzt endlich ein Nähzimmer einrichten zu können - nur um dann festzustellen, dass es vor lauter Nostalgie so recht nicht klappen wollte mit der kreativen Selbstverwirklichung im neugewonnenen Freiraum. Während die Frauen ihr Leben betrachten - das auslaufende Familienleben, den kommenden Ruhestand - streift die Kamera durch die Räume ihrer Behausungen, ihrer Arbeitsplätze und des öffentlichen Lebens, in denen sie sich sonst aufhalten. Ein spröder Film, der mehrfaches Sichten lohnt.
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