Das Absolute und das Andere

Protokoll einer internationalen Konferenz auf dem weiblichen Olymp

Irgendwo im Nirgendwo sind sie vereint, die großen Gestalten der Frauenemanzipation. Was würden sie über uns und zu uns sagen? Wie über sich und ihr Tun rückblickend urteilen? Das möchte man gerne wissen. Mit etwas Fantasie lässt es sich bewerkstelligen. Begeben wir uns ergo auf den weiblichen Olymp. Es sind lichte Höhen zu erklimmen. Wohl an, es sei gewagt!

Am Anfang steht die Enttäuschung. Kein Empfangskomitee begrüßt die neugierige Geschlechtsgenossin aus irdischen Niederungen. Doch die grandiose Ansammlung berühmter, kluger und stolzer Frauen entschädigt sogleich: Clara, Indira, Alexandra, Rosa, Emmeline, Emma, Tina, Simone ... Gekleidet in langen, hochgeschlossenen Gewändern viktorianischen Stils, in bunten Saris oder im kecken Charlestonfummel huschen sie schwatzend und scherzend an der Besucherin aus dem 21. Jahrhundert vorbei, eine betäubende Parfümwolke verströmend. Wohin eilen sie? Schnell hinterher.

Die Agora ist bunt beflaggt, die rote Fahne dominant. Dicht an dicht stehen die Frauen, mit schicken Hüten, wallender Mähne, züchtigem Dutt oder burschikosem Kurzhaarschnitt. Manche halten Schilder hoch: »Votes for Women«, »Mein Bauch gehört mir«, »Peace, Pace, Mir« ... Lautes Stimmengewirr in den Sprachen aller Damen Länder. Mehrmals muss Clara Zetkin, die im Präsidium sitzt, ihr Glöckchen ertönen lassen, bis Ruhe einkehrt. Die deutsche Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin, auch auf diesem Olymp eine Autorität, eröffnet die Versammlung: »Wir erkennen gar keine besondere Frauenfrage an - wir erkennen keine besondere Arbeiterinnenfrage an! Wir erwarten unsere volle Emanzipation weder von der Zulassung der Frau zu dem, was man freie Gewerbe nennt, und von einem dem männlichen gleichen Unterricht - obgleich die Forderung dieser beiden Rechte nur natürlich und gerecht ist - noch von der Gewährung politischer Rechte. Die Länder, in denen das angeblich allgemeine, freie und direkte Wahlrecht existiert, zeigen uns, wie gering der wirkliche Wert desselben ist …. Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.«

Zunächst ist nur unzufriedenes Gemurmel zu vernehmen, dann werden Zwischenrufe laut. Sie kommen aus dem Block schwarzgekleideter Frauen mit schwarzen Fahnen. In der Sowjetunion sei die volle Gleichberechtigung der Frau auch nicht erreicht, das Patriarchat nicht zertrümmert worden, meinen die Anarchistinnen und Anarchosyndikalistinnen. Simone Weil schimpft, dass »die großen bolschewistischen Führer eine ›freie‹ Arbeiterklasse zu schaffen behaupteten und wahrscheinlich keiner von ihnen - Trotzki sicher nicht, und Lenin, glaube ich, auch nicht - je den Fuß in eine Fabrik setzte und folglich nicht die leiseste Ahnung von den wirklichen Bedingungen hatten, die Knechtschaft oder Freiheit der Arbeit bestimmen«.

Eine streng dreinblickende Frau boxt sich, begleitet von zwei hübschen Mädchen, zum Präsidiumstisch vor und prügelt mit dem Regenschirm auf diesen ein. Emmeline Pankhurst, Englands berühmteste Suffragette, flankiert von den Töchtern Christabel und Sylvia, ist empört, dass Clara ihren opferreichen Kampf um das Frauenwahlrecht so schnöde abtut. Man habe sie beschimpft, geschlagen, inhaftiert; eine Gefährtin starb gar beim Derby in Epsom unter den Hufen des königlichen Gauls. Clara versucht Emmeline zu beruhigen: Sie wollte die Freundin nicht beleidigen, wisse um deren Verdienste ... Sie wird jäh unterbrochen. Rosa Luxemburg ruft zornig aus, die Genossin Zetkin müsse sich vor niemanden für nichts entschuldigen; ihr sei die Aufnahme des Frauenstimmrechts 1891 ins Parteiprogramm der deutschen Sozialdemokratie zu danken. Clara nickt gedankenversunken, erinnert sich an die heftigen Auseinandersetzungen, die sie mit Rosa gegen die Vorstandsmänner auszufechten hatte. »Hinter jeder notwendigen oder nützlichen selbstständigen Lebensäußerung der Genossinnen witterten sie Quertreibereien und Sonderbündelei.«

Plötzlich reden alle Frauen durcheinander, sie haben ähnliche Erfahrungen mitzuteilen. Clara ermahnt die erregten Weiber, sich gesittet zu Wort zu melden. Sie wird erhört. Dutzende Arme schnellen empor. Als erste darf Alexandra Kollontai reden. Die Volkskommissarin berichtet, in ihrer Partei, den Bolschewiki, als »Kommunistin mit einer soliden Dosis feministischen Mülls« verspottet worden zu sein. Sodann führt sie, Claras Eingangsworte aufgreifend, aus: »Die Vorherrschaft des Mannes, d. h. des Patriarchats und des Vaterrechts, entstand nicht von einem Tag zum anderen … Die Frauenherrschaft, das Mutterrecht, dominierte, solange das Kollektiv mit seiner primitiven Ökonomie als Hauptproduzent fungierte. Das Vaterrecht setzte sich im Zusammenhang mit der Entstehung des Privateigentums durch.« Die Russin schließt mit einem Plädoyer für die »erotische Kameradschaft« zwischen Mann und Frau, die sich auf vollkommener Freiheit und aufrichtiger Solidarität gründe.

Wer lacht da so unverschämt laut auf? Vera Figner. Die Sozialrevolutionärin, am Attentat auf Alexander II. 1881 beteiligt und zwei Jahrzehnte in zaristischen Kerkern gefangen gehalten, lässt die Versammelten wissen, »dorogaja Alexandra Michailowna« sei selbst gar nicht so »frei« gewesen, habe sich erst nach dem Tod des Gatten ganz der Revolution gewidmet. Wieder quatschen alle durcheinander. Simone de Beauvoir gesteht: »Als ich Sartre begegnet war, hatte ich geglaubt, nun sei alles gewonnen. An seiner Seite konnte meine Selbstverwirklichung nicht misslingen. Jetzt sagte ich mir: auf das Heil eines anderen mitzusetzen ist der sicherste Weg zum Untergang.« Die Philosophin schmerzt es noch immer, dass man(n) in ihren Schriften den Geist respektive die redigierende Hand von Jean-Paul vermutet. Frauen würden nicht als autonomes, sondern »relatives« Wesen betrachtet, nicht ohne den Mann gedacht, klagt die Beauvoir: »Er ist das Subjekt, er ist das Absolute; sie ist das Andere.«

Tumult bricht aus. Ob weißer, schwarzer, gelber oder roter Hautfarbe, alle Frauen wollen dazu etwas aus eigenem Erleben beisteuern. Phoolan Devi, die »Banditenkönigin« aus Uttar Pradesh, erzählt aus ihrer Kindheit: »Ein Mädchen existierte einfach nicht ohne ihren Vater, ihren Bruder, ihren Onkel oder ihren Ehemann - oder sonst irgendeinen Mann, der zu ihrer Familie oder ihrer Kaste gehörte.« Mit elf Jahren wurde sie zwangsverheiratet, dann verstoßen, vielfach vergewaltigt und von der Zentralregierung in New Delhi elf Jahre ohne Urteil eingesperrt. Später stritt sie als Parlamentsabgeordnete für Mädchenbildung, gegen Witwenverbrennung und Kastenunrecht.

Unweit von ihr steht, unschwer zu erkennen an der markanten weißen Strähne im schwarzen Haar, Indira Gandhi. Die Tochter und langjährige Privatsekretärin von Jawaharlal Nehru ist in einen edleren Sari gehüllt als Phoolan, hält von jener auch etwas Abstand; Indira entstammt der Kaste der Brahmanen. Sie wirft ein, die Frau habe dem Mann gegenüber auch eine gewisse Verantwortung. Worauf sie mitleidige bis hämische Blicke erntet. Die Ärmste plagen noch immer Schuldgefühle; sie glaubt, ihr Gemahl sei an Vereinsamung gestorben. Was viele ihr vorwarfen, selbst Sohn Sanjay. Nach dem Tod von Feroze Gandhi war sie zutiefst depressiv, doch sie beteuerte: »Ich bin nicht krank ... Ich fühle mich einfach nicht am Leben.« Phoolan tritt auf Indira zu, umarmt sie tröstend und zischt ihr zugleich zu: Die Zwangssterilisationen zur Erreichung eines Geburtenrückgangs unter ihrer Regierung seien nicht rechtens gewesen.

Derweil spricht Tina Modotti. Sie habe ebenso nicht mehr weiter leben wollen, als ihre große Liebe, der kubanische Revolutionär Julio Antonio Mella, in Mexiko von Bütteln der Reaktion niedergeschossen wurde. Sie schwor, seinen Kampf fortzuführen. Die passionierte Fotografin war sich nicht zu schade, in der von Franco, Hitler und Mussolini bedrängten spanischen Republik in einem Krankenhaus bis zur totalen Erschöpfung zu kochen, putzen, pflegen. Nun schaltet sich erneut Clara Zetkin ein. Auch sie verlor ihren Ossip früh, hatte es wahrlich nicht leicht, gedenke jetzt indes heiter ihres Spagats zwischen Haushalt, Kindern und Arbeit: »Ich bin Hofschneider, Koch, Wäscherin etc. Kurz ›Mädchen für alles‹. Dazu kommen noch die beiden Pipitschlinge (die Söhne Kostja und Maxim, K.V.), die mir keine ruhige Minute lassen. Wollte ich mich in den Charakter Louise Michels vertiefen, so musste ich No I die Nase putzen, hatte ich mich zum Schreiben gesetzt, so hieß es No II abfüttern. Dazu noch die Misere eines Bohèmelebens.«

Ihr letzter Satz bringt die resolute Emma Goldmann in Rage: Was sie denn gegen die Bohème habe?! Die mutige US-amerikanische Streiterin für den Achtstundentag und gleichen Lohn für gleiche Arbeit, militante Anarchistin, schnappt sich die magere Weil und legt mit ihr einen flotten Foxtrott aufs Pflaster: »Wenn ich nicht tanzen darf, möchte ich an eurer Revolution nicht beteiligt sein.« Ein befreiendes Lachen bricht auf der Agora aus. Der Platzwart deutet dies fälschlich als Schluss der Konferenz und bittet die Damen zu gehen. Denn Babeuf, Bebel und Bucharin hätten die Stätte für ihre Skatrunde gemietet. Ein Affront für das schöne Geschlecht. Den drei ehrenwerten Herren dürfte die Besenkammer genügen, schallt es dem Mannsbild vielstimmig, mit drohendem Unterton entgegen. Der Kerl nimmt flugs Reißaus. Der olympische Disput geht munter weiter.

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