Total vernetzte Weltwirtschaft
»Industrie 4.0« wird Unternehmen und Arbeiten verändern - wie genau, weiß aber noch niemand
»Das Internet der Dinge hat das Potenzial, unsere Gesellschaft zu verändern, unsere Wirtschaft und auch, wie wir unser Leben leben.« Boo-Keun Yoon, Präsident des südkoreanischen Elektronikkonzerns Samsung, der mehr als 600 000 Menschen beschäftigt, denkt in ganz großen Kategorien. Das tut bisweilen auch die Bundesregierung. Sie will die bis Freitag laufende Cebit nutzen, um ein branchenübergreifendes Netzwerk »Industrie 4.0« zu knüpfen.
Kanzlerin Angela Merkel, die am Sonntagabend zusammen mit dem Gründer des chinesischen Internetgiganten Alibaba, Jack Ma, die IT-Messe in Hannover eröffnen sollte, hatte bereits im Februar das Elektronikwerk von Siemens im bayerischen Amberg besucht und Industrie 4.0 quasi live erlebt. Siemens produziert hier in der Atmosphäre eines Operationssaals Steuerungsinstrumente für Bordsysteme auf Kreuzfahrtschiffen oder für die Autoproduktion. »Die Fertigung funktioniert weitgehend automatisiert«, erklärt ein Siemens-Sprecher. Nur am Fertigungsbeginn wird das Ausgangsbauteil, eine unbestückte Leiterplatte, von menschlicher Hand berührt - ein Mitarbeiter legt es in die Produktionsstraße.
Eine 4.0-Miniwelt findet sich auch in Kaiserslautern. Im Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz wurde eine Füllanlage aufgebaut. Der Clou: Das Produkt »sagt« der Maschine, was diese tun soll. Möglich macht dies ein RFID-Funkchip, der über das Internet gesteuert wird. So kann jede Flasche mit der gewünschten Flüssigkeit gefüllt werden. Angewendet auf eine Produktionsstraße heißt dies: »Industrie 4.0 macht eine Multivariantenfertigung auch in kleinsten Losgrößen wirtschaftlich darstellbar.«
Die meisten Techniken für die laut Bundesregierung »vierte industrielle Revolution« sind indes schon lange bekannt. So werden die Kaiserslauterer RFID-Chips bereits in großen Warenlagern eingesetzt. Doch aus solchen »Inseln« soll eine total vernetzte Weltwirtschaft werden, die von der Rohstoffförderung bis zum Endverbraucher reicht. Noch fehlen internationale Standards und erst jedes zehnte deutsche Industrieunternehmen ist laut der Unternehmensberatung Roland Berger auf dem Weg zur großen digitalen Transformation.
»Individualisierung« von Konsum und Produktion, »Optimierung« der Logistikketten sind Schlüsselbegriffe, mit denen Ingenieure, Manager und Forscher ihr Tun vage umschreiben. Bis 2030 wollen Hersteller in der Lage sein, aus einer Idee im Bruchteil der heute notwendigen Zeit ein fertiges Endprodukt zu entwickeln. Selbst komplexeste Fertigungsprozesse werden dann in der virtuellen Welt entworfen und getestet.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht ganz neue Chancen: Mit der Weiterentwicklung etwa des 3D-Drucks verliere der Anteil der Löhne an den Produktionskosten an Bedeutung. »Vielleicht können wir sogar die nach Fernost abgewanderte Massenproduktion zurückholen«, hofft BDI-Boss Ulrich Grillo. Das sieht man beim diesjährigen Cebit-Gastland China anders: Einige Großunternehmen aus dem Reich der Mitte investieren kräftig in Automatisierung und Digitalisierung. Für Industrieroboter gilt China derzeit als weltweit größter Absatzmarkt.
Doch es geht um mehr als um Unternehmensinternes, glauben einige Ökonomen: Arbeit werde anspruchsvoller, interessanter und das Landleben könne mit den Möglichkeiten der Stadt gleichziehen. Bestsellerautor Jeremy Rifkin, der am Dienstag auf der Cebit auftritt, träumt gar vom Ende des Kapitalismus. Dank einer vollautomatischen Produktion brauche es keine Konzerne mehr. Genossenschaftliches, »kollaboratives« Gemeingut werde an die Stelle des Privateigentums an den Produktionsmitteln treten.
Bei Siemens denkt man profaner: »Heute sind echte Effizienzsprünge nur noch zu erreichen, wenn wir Systeme und Prozesse entlang des gesamten Produkt- und Produktionslebenszyklus eng miteinander verzahnen und optimieren«, heißt es bei dem alteingesessenen Konzern, der sich über die an Grenzen stoßende kapitalistische Wachstumslogik Gedanken macht. Industrie 4.0 halt.
Für die Arbeitswelt verheißt das nichts Gutes. Ein Horrorbild malen Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology oder die britischen Forscher Carl Frey und Michael Osborne: Das Ende der Arbeit drohe. Bedächtiger ist man bei der IG Metall. Bereits Ende der 1970er Jahre war im Zuge der beginnenden Computerisierung eine »Polarisierung« der Arbeitswelt erwartet worden - in wenige Spezialisten und wenige Hilfsarbeiter.
Es kam anders. Heute gibt es mehr Jobs in Deutschland als je zuvor und die »Mitte«, Facharbeiter und Handwerker, kann sich vor Aufträgen kaum retten. »Wir brauchen einen Neustart in arbeitspolitischer Perspektive«, fordert deshalb IG-Metall-Vize Jörg Hofmann. Eine neue Humanisierungsoffensive sei notwendig. Bevor die Industrie 4.0 wahr werde.
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