Wie löscht man heute Laternen?

Die Regisseurin Angela Richter führte bewegende Gespräche mit Dissidenten des digitalen Zeitalters

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie schwimmt in Key West mit Delphinen: Freiheit! Da kommt der Anruf aus der drohenden Unfreiheit: Julian Assange ruft an, es ist 2012, und die nun anlaufenden Verabredungen für ein Interview scheinen einem Thriller-Szenario entnommen. Geheime Treffpunkte, Vermummungen, Terminverschiebungen, Flucht; das Leben nur noch schemenhaft, ein ständiges Vorbeihuschen; der Mensch und seine Verwandlung in einen Schatten ...

In wenigen Tagen, im Juni, wird Assange, der Gründer von WikiLeaks, bereits drei Jahre in der ekuadorianischen Botschaft in London gewesen sein. Die Regisseurin Angela Richter hat mit ihm und weiteren Whistleblowern, Netzaktivisten, Hackern, Cyberpunks lange Gespräche geführt: »Supernerds. Gespräche mit Helden« erschien soeben im Alexander Verlag Berlin. Zu Wort kommen Dissidenten des digitalen Zeitalters, Streiter gegen eine US-Politik, die nach dem islamistischen Grauen vom 11. September 2001 weltweit »furchtpolitisch misshandelte Bevölkerungen schuf« (Peter Sloterdijk) - Bevölkerungen, denen militärische, geheimdienstliche Gerechtigkeitsaktionen eingeredet wurden, wo doch in Wahrheit, so der Philosoph, »grassierender Staatsterrorismus« per Überwachung stattfand. Und stattfindet.

Da ist Thomas Drake, der NSA-Mitarbeiter, der Informationen über den besagten Überwachungsgigantismus weitergab und fünf Staatsanwälte und 25 FBI-Agenten auf sich zog: Er erschrak über die Schnüffelgier des Apparats, die nicht Notwendigkeiten entsprang, sondern einer Lust, wie sie Besitzende empfinden - nicht der Besitz selbst reizt, sondern der Sport, ihn zu vermehren. Drake freilich glaubt an die Kraft der politischen Umkehr, »ich fühle mich ermutigt, sogar durch die deutsche Geschichte«, die ja 1945 aus totaler Düsternis ins Helle fand. Da ist William Binney, der 36 Jahre bei der NSA arbeitete, als deren bester Analyst galt und innerhalb des Apparates so engagiert wie ergebnislos gegen die Überwachungsverbrechen anging. Und da ist der Hacker und Anarchist Jeremy Hammond, der für hochprozentigen Datendiebstahl 2013 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Sie alle haben getan, was ihnen ihr Ehrgefühl, ihr Realismus eingab. Denn man sah sie doch beizeiten - wenn man nur wollte! - in klaren Konturen kommen, die Vergeltungstruppen und ihre eingebetteten Journalisten mit dieser großspurigen Imperium-Versteherei, dem Applaus für den Krieg unter gefälschten Vorwänden und all der antiislamischen Verbissenheit. Diese September-Krieger, diese besinnungsfeindlichen Maul-Helden, diese Drohnen, die als unbemannte Hohlschädel ihre Überwachungsflüge über dem freien Denkraum ausführten - sie sind noch immer im Einsatz und lassen von ihrer wutgetriebenen Vergiftungsarbeit nicht ab. Aus Zivilgesellschaften sind Zitadellengesellschaften geworden. »Alle haben Angst«, sagt Binney, »das bricht dem Enthüllungsjournalismus das Genick. So hat es auch die Stasi gemacht, so hat es der KGB gemacht, und so hat es die Gestapo gemacht. Angst schüren, damit niemand den Mund aufmacht.«

Alle Whistleblower treibt die Frage um, was aus einer Bürgerlichkeit werden soll, die sich nicht auch selber ins Visier der Prüfung nimmt. Binney spricht von einer »bastardisierten Form von Demokratie«. Dagegen hackten, kopierten, veröffentlichten sie, die Helden dieses Buches. Und dafür litten sie, wurden bestraft, verfemt, verachtet. Assange über WikiLeaks: »Wir veröffentlichen Analysen. Aber immer zusammen mit den primären Informationsquellen, auf denen sie beruhen.« Quellen, die auch Chelsea Manning offenlegte, der Soldat, der US-Kriegspläne gegen Afghanistan und Irak weitergab, dafür 35 Jahre ins Gefängnis muss - und in deren Zelle leider kein Gesprächsweg führte. Aber Manning ist in den Gesprächen des Buches immer anwesend. Der Uniformträger als Eigensinnigster. Der Mann im Tapferkeitsberuf ganz ohne Feigheit vor den Eigenen. Wahrer Verfassungspatriotismus. Mann Manning? Ja, Bradley hieß er in den Weltnachrichten. Aber darf nun endlich Chelsea sein, und zur Wahrhaftigkeit, zur Erschütterungskraft dieses Buches gehört Angela Richters Gefühl und Gespür für die menschlichen Tragödien hinter dem Mut, hinter der Tapferkeit. Über Manning erfahren wir, dass diese Frau im zeitweiligen Manneszwang weder Gefängnis noch Todesurteil fürchtete, aber was sie zermürbt: dass ein Bild um die Welt ging, das sie als Jungen zeigte.

Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung von 7000 Seiten Dokumenten, den »Pentagon Papers«, einst die brutale Aggressions- und Eskalationspolitik der US-Regierung gegen Vietnam entlarvte und so zur Beendigung des Krieges in Südostasien beitrug - er blieb Verfechter des zivilen Ungehorsams und ist dauerhaft getroffen von den Sonetten des Dichters Albrecht Haushofer, der im April 1945 von der SS ermordet wurde; Haushofers Bruder hatte die Leiche gefunden, Albrechts Hand in der Manteltasche, gekrallt um Papier, auf das er Gedichte geschrieben hatte. Ellsberg zitiert: »Ich hab gewarnt, nicht hart genug und klar.« Da ist es, das Aufrichtige, das von Menschen immer wieder verschleppt, vertrieben wird, das aber durch Menschen auch immer wieder zur Heimkehr in die Seelen gelangen kann. Durch sehr einzelne Menschen meist - auf die sich dann der millionenfache Rest beruft (das nennt man dann Geschichte).

Jesselyn Radack, Mitarbeiterin im US-Justizministerium, setzte sich nach dem 11. September 2001 für die ordnungsgemäße juristische Behandlung eines verhafteten Talibankämpfers aus den USA ein, »das Foto, das um die Welt ging, gab deutlich zu erkennen, dass er gefoltert wurde«. Radack kündigte, nahm aber die E-Mails der Behörde mit, die dem Angeklagten »ethische Korrektheit« verweigerten. Sie erfuhr Prangerpraktiken, Schikanen. Ist Heldentum Veranlagung? »Als Durchschnittsbürger kann man sich sozial engagieren. Sehen Sie nicht einfach nur zu, mischen Sie sich ein. Selbst wenn man an seine vier Wände gebunden ist oder im Pflegeheim lebt, ganz egal, wie die jeweiligen Lebensumstände aussehen - man kann etwas tun.« So reden alle Gesprächspartner. Und so ist das Buch ein Stoß gegen Brechts Satz, erst komme das Fressen, dann die Moral. Der Satz war seit jeher eine verführerisch präzise Bestätigung, dass soziale Verhältnisse die wichtigste Grundlage für humanes Verhalten seien. Man gebe zu essen und zu wohnen, der Rest füge sich? Beweisen nicht gerade die Whistleblower eine hohe Moral, indem sie sich nicht erpressen lassen von den ausgepolsterten Verhältnissen? Indem sie die Hand wegstießen, aus der sie fressen könnten? Moral ist unabhängig von den Brotkörben, seien sie leer oder gefüllt.

Edward Snowden kommt in Moskau zum Interview, mit tief herabgezogener Mütze. Als Mitbringsel hatte er sich »amerikanische Erdnussbutter und Knabbereien« gewünscht. »Unsere Reaktion auf den 11. September - fehlgeleitete Kriege, illegitime Invasionen, Missbrauch öffentlicher Mittel - hat mehr Menschen das Leben gekostet als der 11. September selbst. Am 12. September hatte Amerika die Möglichkeit gehabt, die Welt in ein neues Jahrhundert zu führen, weil jedem klar war, was für eine Tragödie sich ereignet hatte. Amerika hatte das Mitgefühl der ganzen Welt, selbst bei seinen schärfsten Kritikern. Aber man kann das Terrorproblem nicht dadurch lösen, dass man selber Leute umbringt.« Und so fühlte jeder Mensch dieses Buches eines Tages, dass ideologische Festlegungen seine Erfahrungen belügen wollen. Der Verräter wie der Renegat: Er neigt zu besonderer Treue, nämlich zum einzig Unabdingbaren seiner weiteren Existenz - der Idee der Freiheit. Die immer dort am gefährdetsten ist, wo sie am lautesten gepriesen wird. Der Begriff des Verräters kann Adel sein, so, wie jede Religion ihre eigentlichen Bischöfe schafft: die Ketzer. Und immer zahlt der Ketzer den Preis, verstoßen zu werden. »Was du heute nicht verrätst, tötet dich morgen« (Heiner Müller). Und meist sitzen die Mörder im eigenen Land. »Wäre Snowden ein russischer Dissident, man würde ihm den roten Teppich ausrollen«, heißt es im Buch. Humanismus als »Marketinginstrument« (Assange).

Überwachung, ein Traditionshandwerk. Schon die Pariser Laternen zu Zeiten der französischen Königszeit, so wird im Buch erzählt, dienten nicht der Orientierung der Leute, sondern sollten beleuchten, was die Menschen nachts umtrieb. Aufklärung, Schwester der Finsternis, die seit jeher auch den schnüffelnden Dunkelmännern gehört. Als die Französische Revolution ausbrach, wurden zuerst die Laternen gelöscht. Wie gelingt es heute, fragt Ellsberg, die Laternen zu löschen?

Julian Assange nennt die Internet-Massenüberwachung eine »Infektion des Denksystems der gesamten Menschheit«. Aber immerhin belegten die Whistleblower - indem sie von herrschender Politik die Schleier rissen - etwas grundsätzlich Erfreuliches: »Man kann die Leute offenbar nur durch Lügen zum Krieg bewegen.« Angela Richter konfrontiert Assange mit der Vorstellung, seine Lebensgeschichte würde verfilmt. Wie sähe wohl der Schluss des Films aus? Assange: »Er würde damit enden, dass sechzig Meter hohe Wellen über die Erde hinwegrollen, bevor sie von einem Vulkanausbruch auseinandergerissen wird - während am Himmel ein Baby lacht.«

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