Stolpern oder nicht?
München streitet um Gedenken an NS-Opfer
Stolpern oder nicht? Um den Umgang mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in München wird seit Jahren gerungen. Die einen wünschen sich Stolpersteine im Straßenpflaster, wie in vielen anderen deutschen und europäischen Städten längst üblich. Mit den eingravierten Namen der Ermordeten erinnern sie an die Schicksale der Menschen, die früher dort gelebt haben. Andere halten diese Art des Gedenkens für unwürdig, weil die Opfer ihrer Ansicht nach erneut erniedrigt, in den Schmutz gestoßen und mit Füßen getreten werden. Argumente gibt es für beides und immer geht es um Gefühle - gerade das macht es so schwer, eine Entscheidung zu treffen, wie es vor der Sommerpause im Plenum der bayerischen Landeshauptstadt geschehen soll.
Für Terry Swartzberg von der Initiative Stolpersteine für München gibt es nur eine richtige Wahl: »München soll stolpern!«, findet der Aktivist, der am Dienstag der Stadt eine Online-Petition mit 80 000 Unterschriften überreichte. »Das ist das größte Gedenkprojekt, das die Welt bislang gesehen hat.« Und München schließe sich davon selbst aus. 50 000 Stolpersteine in 1200 Städten in 18 Ländern - so lautet die Bilanz des Projektes des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Verlegt werden sie dort, wo die NS-Opfer zuhause waren, bevor sie von den Nazis verhaftet, deportiert oder ermordet wurden. Für München existieren bereits 150 Stück, sie werden aber in Gebäuden aufbewahrt, seit der Stadtrat ihre Verlegung 2004 untersagte.
Während sich die Münchner mit den Stolpersteinen so schwer tun, sind sie andernorts selbstverständlich. So verlegte Demnig am Dienstag vor dem Bundestag in Berlin zehn Steine, um an jüdische Bewohner zu erinnern, die an der Stelle früher gewohnt hatten. Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen hatten die je 120 Euro teuren Exemplare gestiftet. Der Zentralratspräsident der Juden in Deutschland, Josef Schuster, schätzt das Projekt. »Ich halte Stolpersteine unverändert für eine gute und auch würdige Form des Gedenkens«, sagt er. In seiner Heimat Würzburg gibt es rund 400 davon. »Da fällt mir schon auf, wie oft Menschen hier wirklich stehenbleiben und nach unten gucken, in einem Moment, den sie gar nicht mit Geschichte in Verbindung bringen, und innehalten.«
Dass sich die Stolperstein-Befürworter in München durchsetzen, ist fraglich, sprachen sich die Stadtratsfraktionen von SPD, CSU und Freien Wählern doch Ende April in einem Antrag für Erinnerungstafeln an Hauswänden oder Gedenkstelen aus. Auch die Stadt Augsburg tut sich schwer mit den Stolpersteinen. Zwar wurden im Mai 2014 die ersten beiden Steine verlegt, allerdings auf Privatgrund. Vom Stadtrat gab es bislang kein grünes Licht für das Projekt, auch weil es bei der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg Bedenken gibt.
Die Liberale Jüdische Gemeinde München, Beth Shalom, die rund 450 Mitglieder zählt, unterstützt das Projekt. Die Messingplatten mit den Namen der Ermordeten machten sichtbar, dass die Verbrechen mitten in den Städten und vor aller Augen ihren Ausgang nahmen, schrieb Ende Mai der 1. Vorsitzende Jan Mühlstein in einem offenen Brief an den Stadtrat. »Sie sind kein von oben veranlasstes oder organisiertes Gedenken, sondern werden von Bürgern gestiftet«, heißt es darin weiter. »Sie bezahlen nicht nur die Herstellung und Verlegung, sondern erforschen auch das Schicksal der Menschen, deren Namen und Geschichte mit den Stolpersteinen dem Vergessen entrissen wird.«
Das sehen viele bei der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (ikg) anders. »Die im Holocaust ermordeten Menschen verdienen mehr als eine Inschrift inmitten von Staub, Straßendreck und schlimmeren Verschmutzungen«, erklärte etwa ikg-Präsidentin Charlotte Knobloch bei einer Anhörung des Stadtrats im Dezember. Einen würdelosen Umgang kann Stolperstein-Aktivist Swartzberg andernorts nicht feststellen. »Im Gegenteil, die Menschen kommen mit Blumen, sie kommen, um zu lernen, wer die Opfer waren.« Genau darauf komme es aber letztlich an. »Wir brauchen die Erinnerung, wir brauchen es, dass die Shoah nicht vergessen wird.«
Charlotte Knobloch hat die Schrecken der Nazi-Zeit selbst erfahren. Mit ihren Erlebnissen als Kind begründet sie auch ihre Ablehnung. »Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Menschen, auf die man schon auf dem Boden liegend immer weiter eintrat und die mit schweren ledernen, stahlbekappten Stiefeln in die Transporter getreten wurden«, erklärt sie. »All das hat man vor Augen, als wäre es gestern erst geschehen.« dpa/nd
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