Studie zum Öffentlichen Nahverkehr: Fahrscheinlos ist machbar
Hamburger Institut erarbeitete im Auftrag von Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus Untersuchung
Das Thema fahrscheinloser Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ist in Berlin zwischen den Parteien hart umkämpft. Die SPD stieg jüngst auf ihrem Landesparteitag in die Diskussion ein. Die Grünen arbeiten seit längerem an einem Konzept, die Linkspartei hat mit ihrer »Öffi-Flat« sogar bereits ein eigenes Label.
Von den drei Oppositionsfraktionen feilen die Piraten wahrscheinlich in der jüngeren Vergangenheit am längsten an dieser Idee. Am Freitag legte die Piratenfraktion bei dem Thema nach und präsentierte eine »Machbarkeitsstudie« zur Umsetzung. »Wir wollen den fahrscheinlosen ÖPNV, weil er die Lebensqualität steigert«, sagte der verkehrspolitische Sprecher der Piratenfraktion, Andreas Baum. Seine Fraktion hatte im September 2014 das Hamburg Institut Research (HIR) beauftragt. Am Freitagabend sollte das Konzept bei einer Veranstaltung im Technikmuseum der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Das zentrale Ergebnis der 131-seitigen Untersuchung ist: Ein fahrscheinloser Öffentlicher Personennahverkehr in Berlin ist machbar. »Diese Untersuchung zeigt auf, dass eine Variante zur Finanzierung des ÖPNV auf bestehende Beitragslösungen, ähnlich dem Semesterticket, aufbauen könnte«, heißt es in dem Text. Ein solidarisch finanziertes Semesterticket für Studierende gibt es in Berlin seit 2003. Die Autoren der Untersuchung haben für die Piraten nun mehrere Modelle durchgerechnet, wie die Idee auf alle Berliner und die Besucher der Stadt ausgeweitet werden könnte. Wobei »viele Fragen«, dass räumen die Wissenschaftler ein, »noch offen« sind. Letztendlich wollen die Piraten auch kein fix und fertiges Konzept vorlegen, sondern die politische Debatte weiter befeuern.
Je nach Berechnungsmodell gelangen die Wissenschaftler zu ÖPNV-Kosten im Jahr 2020 zwischen 1,94 und rund 2,3 Milliarden Euro. Hinzu kämen die Kosten für den fahrscheinfreien Nahverkehr. Diese liegen zwischen 271 Millionen Euro und 326 Millionen Euro pro Jahr. Abgezogen werden die Erträge aus den ÖPNV-Subventionen in Höhe von 719 Millionen Euro, so dass die auf die Bevölkerung umzulegenden ÖPNV-Kosten zwischen ca. 1,5 und 1,9 Milliarden Euro lägen – darin sind auch Einnahmen aus einer neuen City Maut, einer Grunderwerbssteuer-Erhöhung und mehr Parkraumbewirtschaftung enthalten. Die Umlage, das schlagen die Piraten vor, soll in drei Kategorien gestaffelt werden: Bis 18 Jahre fährt man umsonst, zudem gibt es ab 18 Jahren einen ermäßigten Tarif für 15 Euro, das Normalticket würde zwischen 42 und 61 Euro im Monat kosten.
Die Piraten und die Wissenschaftler gehen davon aus, dass der ÖPNV einen Attraktivitätsschub erhalten würde: »Dass ein solidarisch finanzierter ÖPNV dazu geeignet ist, eine deutliche Verlagerung vom Pkw-Verkehr auf den ÖPNV auszulösen«, heißt es in der Untersuchung. In den wenigen europäischen Städten, wo bereits ein fahrscheinloser ÖPNV ausprobiert wurde, war ebenfalls ein Umstieg auf Busse und Bahnen beobachtet worden. »Wir gehen nicht davon aus, dass es eine Revolution gibt, und alle vom Auto auf den ÖPNV umsteigen«, sagt Projektleiter Christian Maaß. Aber eine »Evolution« werde es geben.
Nötige Investitionskosten in Fahrzeuge, Tunnelbohrungen und neue Tram-Linien beispielsweise sind in den Piratenrechnungen nicht enthalten und müssen noch diskutiert werden. In den kommenden Wochen wollen die Piraten deshalb mit den Verkehrsverbänden, aber auch den anderen Parteien, die ähnliche Konzepte verfolgen, in einen Dialog treten.
Die Linkspartei geht in ihrem Konzept übrigens von einem geringeren Betrag von 30 Euro aus für ein »Berlinticket« aus, die Grünen rechnen sogar nur mit 15 Euro.
Die Machbarkeitsstudie gibt es hier als Download
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