Der Gesang des Schmieds

Pierre Rabhi plädiert in »Glückliche Genügsamkeit« für »nachhaltige Wachstumsrücknahme«

  • Erik Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Stéphane Hessel 2010 seine Streitschrift »Empört Euch!« herausgebracht hat, ging im Zuge der Finanzkrise ein Ruck durch das linke Europa. Doch dieser Ruck ist schnell verebbt, die Revolte blieb aus, man begab sich wieder zurück ins Hamsterrad des kapitalistischen Alltags. Doch wenn die Empörung, vor allem hinsichtlich der gegenwärtigen Erpressungspolitik des europäischen Finanzkapitals gegenüber Griechenland, nicht hochgehalten wird, versinkt linke Utopie vollends in Fatalismus und Resignation.

Nun macht erneut eine mahnende Stimme aus Frankreich mit einer Streitschrift die Runde. Pierre Rabhi, Landwirt, Umweltschützer und Schriftsteller, veröffentlichte Anfang dieses Jahres ein kleines radikales Büchlein - ausgerechnet mit dem Titel »Glückliche Genügsamkeit«. Was hier eher nach einem esoterischen Ratgeber oder im schlimmsten Fall nach blankem Hohn angesichts der weltweiten Armut klingt, erweist sich jedoch als gesellschaftliche Radikalkritik.

Rabhi ist überzeugt, dass das zerstörerische Gesellschaftsmodell nicht zu flicken sei, »es mit aller Gewalt aufrecht erhalten zu wollen, wie es die globale Ordnung vorsieht, ist vergeblich und verlängert nur den Todeskampf«. Rabhi fordert den Paradigmenwechsel von der Logik des grenzlosen Profits zur Logik des Lebens, bei der Mensch und Natur im Mittelpunkt stehen. Und die könne nur in der individuellen und kollektiven Selbstbeschränkung liegen.

Ein Bild aus seiner Kindheit hat sich dem 1938 im Süden Algeriens geborenen Pierre Rhabi eingebrannt: Sein Vater, der Dorfschmied, bearbeitete im Schweiße seines Angesichts mit dem Hammer das glühende Eisen auf dem Amboss. Und der Gesang des Schmiedes erfüllte die hitzeflimmernde Luft über dem Dorf. Ein Hort der Genügsamkeit, bei der jeder Bewohner sein Ein- und Auskommen hatte - bis die französischen Kolonisatoren unter der Erde Kohle entdeckten und alle Bauern und Handwerker im Namen des Fortschritts zu Minenarbeitern versklavten. Auch das Feuer des Dorfschmieds kam zum Erlöschen, Rabhis Vater musste sich auch den neuen Herren verdingen.

Dies war der Zeitpunkt, da sich Rabhi das erste Mal die Grundfrage der modernen Arbeitsgesellschaft stellte: Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten?

Seither entfremdete die kapitalistische Megamaschine die Arbeiter immer mehr von ihren Produkten und schuf ein Ausbeutungssystem sondergleichen, das im Namen des Fortschritts und der Moderne die Menschen, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, in immer größere Abhängigkeiten stürzte und die Arbeitsgesellschaft pervertierte.

Aus diesem Kreislauf der Sklaverei könne man sich nur befreien, so Rhabi, wenn man sich der Wurzeln der Arbeitsteilung besinnt, die Tugenden der Genügsamkeit zurückentdeckt und sich der ersten Bürgerpflicht des homo oeconomicus, des maßlosen Konsums, entzieht, weil »die Unersättlichkeit und die Unzufriedenheit die beiden Zitzen der Ökonomie bilden«.

Rabhi bringt den Terminus der »nachhaltigen Wachstumsrücknahme« ins Spiel und fordert von der Politik, Bedingungen zu schaffen, in denen sich individuelle und kollektive Selbstbeschränkungsmodelle entfalten können, ohne am Finanztropf profitorientierter Geldgeber zu hängen. Dann bräuchte sich auch ein Alexis Tsipras nicht demütigende Bedingungen für das griechische Volk von einer selbst ernannten Finanzkapital-Troika mit dem Messer am Hals aufoktroyieren lassen. Mit Pierre Rabhis Streitschrift »Glückliche Genügsamkeit« wäre Griechenland viel mehr geholfen!

Pierre Rabhi: Glückliche Genügsamkeit. Matthes & Seitz. 155 S., geb., 18 €.

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