Der Demokratie in Chile eine Chance geben
Cristian Cuevas über das Erbe der Diktatur, den Einfluss der Rechten in der Regierung und Chancen der Linken
Herr Cuevas, unlängst wurde in Chile des 42. Jahrestags des Putsches gegen die Regierung von Salvador Allende am 11. September 1973 gedacht. Was ist von der Diktatur unter General Augusto Pinochet geblieben?
In diesen 42 Jahren ist die Wirtschaftspolitik der Pinochet-Diktatur, die im Kern im Neoliberalismus besteht, leider fast unverändert geblieben. Chile war das erste Land, in dem dieses Modell mit seiner Anhäufung des Reichtums und der Abwicklung der Sozialsysteme ausprobiert wurde. Das betrifft unter anderem das Rentensystem, das für die Mehrheit der Arbeiter im Pensionsalter ein Armutsrisiko schafft; Tarifverträge und Gewerkschaftsarbeit werden durch Arbeitsmarktgesetze aus dem Jahr 1979 erschwert, die von José Piñera entwickelt wurden …
… dem Bruder des konservativen Ex-Präsidenten Sebastián Piñera.
Schließlich bleibt die letzte und massivste Bastion der Diktatur bestehen: die Verfassung aus dem Jahr 1980. Heute, 25 Jahre nach dem Ende der Diktatur, wird endlich die Möglichkeit einer neuen Verfassung diskutiert, um der Demokratie wieder eine Chance zu geben.
Die amtierende Regierung unter der Sozialdemokratin Michelle Bachelet macht vor allem durch die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen zwischen 1973 und 1990 von sich reden. In der Wirtschaftspolitik gibt es weniger Fortschritte, was sich zuletzt an verschiedenen Streiks zeigte.
Wie erklären Sie sich den unterschiedlichen Umgang mit der Vergangenheit?
Der Kampf für die Menschenrechte wurde und wird in Chile permanent gefochten, was vor allem am Engagement der Verbände von Angehörigen der Opfer sowie der Opfer von Folter und politischer Haft selbst liegt. Präsidentin Bachelet ist das Thema wegen ihrer eigenen Geschichte wichtig, weil sie und ihre Mutter, Angela Jeria, gefoltert wurden und weil ihr Vater ermordet wurde. Im sozialpolitischen Bereich werden viele Proteste leider nach wie vor kriminalisiert. Das betrifft nicht nur die Arbeiter, sondern auch Studierende und indigene Völker. Ich denke, das liegt daran, dass die Staatspolitik von denen gemacht wird, die das System erhalten wollen. Deswegen sind strukturelle Veränderungen so wichtig.
Tatsächlich ist Chile unter Präsidentin Bachelet aber aktiver Teil der neoliberalen Pazifik-Allianz.
Die Regierung versucht damit, das innere Gleichgewicht zu halten. Innerhalb des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría (Neue Mehrheit) gibt es eben Kräfte, die auf Seiten des Neoliberalismus und Konservatismus stehen.
Dabei gehört auch die Kommunistische Partei Chiles (PCCh) der Regierung Bachelet an. Was hat sie erreicht?
Die PCCh ist zum ersten Mal seit 40 Jahren an einer Regierung in Chile beteiligt, die ein breites Spektrum von der Christdemokratie über die Sozialdemokratie bis hin zu den Kommunisten vereint. Die größte Errungenschaft ist wohl, dass die PCCh Teil eines solchen weltweit fast einmaligen Bündnisses ist. Sie ist auch mit zwei Ministern und weiteren Vertretern in der Regierung präsent und kann sozialpolitisch Einfluss nehmen.
Präsidentin Bachelet ist dennoch auf einem historischen Tiefstand, das Umfrageinstitut Cadem misst gerade einmal noch 20 Prozent Zustimmung. Wie lässt sich ein Stimmungswandel erzeugen?
Das könnte alleine durch einen Wechsel der Regierungspolitik verändert werden, indem Präsidentin Bachelet ihr Programm umsetzt und die Initiative für eine neue Verfassunggebende Versammlung wiederbelebt. Sie darf sich eben nicht von der Rechten unter Druck setzen lassen, die jeden Ansatz einer Veränderung unterhöhlt und boykottiert hat. Kurzum: Präsidentin Bachelet muss den Draht zu ihren Wählern wieder aufbauen.
Angeregte Debatten über eine Regierungsbeteiligung der Linken gibt es ja auch in Europa, in Deutschland zum Beispiel oder in Griechenland. Kann Chile dafür als ein Beispiel dienen?
Jedes Land hat seine spezifischen Debatten und auch die LINKE in Deutschland sollte sie führen. Ich kann nur empfehlen, dass man sich in der Linken konsequent immer an den Mehrheiten orientiert und darauf achtet, sich nicht um der Regierung willen von neoliberalen Kräften instrumentalisieren zu lassen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Ziele aus eigener Kraft durchzusetzen.
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