Kreuzfahrt ins Verderben
Enrique Mazzola und Vera Nemirova inszenieren Giacomo Meyerbeers »Vasco da Gama« an der Deutschen Oper in Berlin
Eine Herkulesarbeit des Musikwissenschaftlers Jürgen Schläder war die Voraussetzung für die Premiere von »Vasco da Gama«. Schläder hat sämtliches Material von Meyerbeers letzter Oper (bekannt als »Die Afrikanerin«) neu herausgegeben. Meyerbeer pflegte immer etliches mehr zu komponieren als er für seine Opern brauchte und legte dann während der Uraufführungsproben die endgültige Fassung fest. Über dem »Vasco« starb er, so dass heute jedes Team selbst eine Bühnenfassung finden muss. Die Regisseurin Vera Nemirova und der Dirigent Enrique Mazzola kreierten daraus an der Deutschen Oper in Berlin einen fast fünfstündigen Abend.
Ines, portugiesische Adelstochter, jammert ihrer seit zwei Jahren abgängigen Jugendliebe Vasco nach, wird aber einem ehrgeizigen Marineoffizier versprochen. Dann tagt der Kronrat und mitten in der Sitzung taucht Vasco auf, einziger Überlebender eines Schiffbruchs. Er schwärmt von neuen Welten, die er für Portugal entdecken möchte. Zum Beweis, dass es hinter dem Kap der Guten Hoffnung ein unbekanntes Land geben muss, hat er zwei Sklaven mitgebracht. Unsterblichkeit durch Eroberer-Ruhm ist Vascos Lebensziel - und dafür wird er wegen Überheblichkeit zum Kerker verurteilt. Eine wilde Sitzung eigentlich, aber Vera Nemirova trennt die Kontrahenten durch einen riesigen Tisch, erzwingt so eine gewisse Statik und lässt katholische Engstirnigkeit deutlich siegen.
Aber die Regisseurin kalkuliert genau. Im zweiten Akt, Kammerspiel im Gefängnis, die erste Steigerung. Eine überraschende Wendung folgt auf die nächste. Am Ende ist Ines mit Don Pedro verlobt, Vasco befreit, die Sklaven Selica und Nelusco sind Ines’ Eigentum und für eine Abenteuer-Schifffahrt in ihr Heimatland angeheuert. Vasco weiß indes genau, wie er in das unbekannte Land segeln muss. Selica hat ihm aus Liebe die Passage verraten.
Die Seereise im dritten Akt ist eine Kreuzfahrt mit einem maschinengewehrknatternden Piratenüberfall am Ende, dem sämtliche portugiesischen Männer zum Opfer fallen. Anführer ist der vermeintliche Sklave Nelusco. Schließlich huldigen alle Piraten ihrer Königin: Selica.
Meyerbeer bediente das Schaubedürfnis seines Pariser Publikums mit großen Tableaus, aber sie waren nicht Selbstzweck. Immer wieder ging er gegen religiösen Fanatismus an. Im »Vasco« attackiert er ihn als fortschrittstötend im katholischen Portugal, als menschenvernichtend im exotisch-brahmanisch-muselmanischen Indien. Nemirova ging es zusätzlich um die fortdauernden Folgen europäisch-kolonialer Welteroberung, die sie ohne aufdringliche Vergegenwärtigung ins Blickfeld rückt. Auf der intimen Ebene stellt sie dem ruhmsüchtig verantwortungslosen Vasco da Gama die beiden um ihn konkurrierenden Frauen gegenüber. Beide retten ihn mehrmals. Beide verzichten endlich im beseelten Duett; Selica stirbt freiwillig unter den Düften des tödlich berauschenden Manzanillobaums. Eine Frau mit großer Liebesfähigkeit oder eine Liebeskranke und Verräterin am eigenen Volk - der Zuschauer mag entscheiden.
Sophie Koch jedenfalls sang ihre Selica sehr lyrisch, voller lebendiger Hingabe, ungemein anrührend, aber eine Königin, das war sie in keinem Moment. Ganz anders ihr Landsmann und Diener Nelusco: eine zwiespältige Figur, hasserfüllt auftrumpfend gegen alles Fremde, loyal bis zur Selbstverleugnung gegen Selica, im stimmlichen Ausdruck ungemein differenziert Markus Brück. Roberto Alagna, von Beruf Startenor, als Titelheld: ein ruhmeskranker Che Guevara in beredsamer Einsamkeit, immer wieder in der Pracht seiner Stimme glänzend. Allerdings hatte er sich indisponiert ansagen lassen und das hörte man, wo er hätte leise und lyrisch sein sollen. Die berühmte »Paradies«-Arie gelang nur mäßig.
Enrique Mazzola mit dem Orchester der Deutschen Oper: diszipliniertes Musizieren, feiner Zusammenhalt des riesigen Ensembles mit schier überrumpelnden Männerchören, delikates Farbenspiel. Das bunte Tableau, die Überrumpelung und Überraschung, daran fehlte es allerdings ein wenig. Man ging ein wenig erschöpft heim, nach Jubel und Beifall.
Weiter: 7.10., 11.10.
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