Abduls Reise III: »Ab hier sind wir sicher«
Beeindruckende Einblicke in den Alltag einer Flucht: Festgehalten in Bild und Ton.
Keine Decken, kein Strom, kein Schlaf: Abdul hat eine harte Reise von Griechenland über den Balkan hinter sich. In Kroatien verlor er fast seine Zuversicht. Doch jetzt hat er es zur österreichischen Grenze geschafft. Von seinem Ziel in Schweden trennen ihn noch 1500 Kilometer.
Doch erstmal muss Abdul durch Österreich. Er wird gut empfangen. Beim Grenzübergang Nickelsdorf wartet das UNHCR mit Decken und warmer Kleidung. Die Polizei ist freundlich und der Bus nach Graz steht schon bereit. Abdul atmet auf. Zum ersten Mal seit seiner Abfahrt in Izmir fühlt er sich sicher.
In Graz folgt die nächste Überraschung: Funktionierende Sanitäranlagen! Warme Duschen! Und Strom! Endlich Energie laden. Und das gilt wortwörtlich. Handy an die Steckdose, heiß duschen, etwas Warmes essen und ab auf das Bett – im beheizten Raum. Als Abdul uns erreicht, hören wir seine Erleichterung. »Ich bin in Österreich!«, jubelt er.
Und trotzdem lassen ihm die Sorgen keine Ruhe. Noch immer sucht er nach seinen Freunden Firat und Gaith. Und auch die Angst vor einer frühzeitigen Registrierung an der deutschen Grenze lässt ihn nicht los. Abdul will auf keinen Fall in Deutschland bleiben, er möchte nach Malmö. Dort lebt die Familie seiner Mutter. Und dort soll man schnell einen Job finden.
Erst einmal entscheidet sich Abdul zur Weiterfahrt nach Wien. Ein Umweg, aber die Route hält er für sicherer. Schnell findet er eine »nette österreichische Dame«, die ihm ein Zugticket kauft. Ein Moment des Glücks, denn Abdul hat nur noch wenig Geld und ist auf Hilfe angewiesen. Als er am Wiener Hauptbahnhof aussteigt, empfängt ihn das inzwischen gewohnte Bild: Tausende Flüchtlinge drängen sich auf den Bahnsteigen, darunter überwältigend viele Kinder. Ein ohrenbetäubender Krach. Trotzdem findet Abdul eine Ecke, um sich auszuruhen. Und schläft ein.
Als er aufwacht, ist seine zweite Geldbörse weg. Das erste Mal wurde Abdul in Kroatien beklaut. Jetzt hat er keinen Cent mehr. Abdul wird schlecht. Wie soll er jetzt nach Schweden kommen? Panisch läuft er durch das Chaos, auf der Suche nach jemandem, der ihm weiterhelfen kann. Er ist verzweifelt. Abdul beschließt, über seinen Schatten zu springen. Er ruft uns an und fragt nach Geld. Doch in der Hektik weiß er selber nicht, wie wir es ihm zukommen lassen können. Er will sich erkundigen. Wir verabreden uns für später.
Plötzlich stehen Firat und Gaith vor ihm. Seine Freunde, auch sie haben es nach Wien geschafft. Abdul kann es nicht fassen. Die drei liegen sich in den Armen. Weinend ruft er Vania an. Die Helferin im Grenzcamp von Tovarnik hatte für ihn stundenlang nach den Freunden gesucht. Am Telefon weint auch sie vor Freude über das glückliche Wiedersehen.
Endlich ist Abdul nicht mehr allein. Firat und Gaith werfen ihr Geld für ihn zusammen. Die Weiterreise ist erst einmal gesichert, zumindest nach Deutschland. Was bleibt, ist die Angst vor der Registrierung. Gerüchte gehen um: Der Weg über Frankfurt soll sicherer sein als über München. Andere raten von der Fahrt über Passau ab. Unsicher ruft Abdul uns erneut an. Wir recherchieren. Und berichten ihm von der Überforderung der deutschen Polizei, aber auch von den häufigen Kontrollen in Bayern. Und davon, dass die Stimmung an der Grenze ständig kippen kann. Wir raten ihm, sich bei den Freiwilligen der Initiative »Train of Hope« am Wiener Hauptbahnhof zu melden. Und wir überlegen, unsere Fluchthilfe konkreter zu machen. Kennen wir jemanden, der Abdul über die Grenze bringen könnte?
Schließlich entscheiden sich Abdul und seine Freunde für den Weg der Vielen. Mitschwimmen in der Masse. Ein Zug bringt sie nach Passau. Wie sich zeigt, war das eine gute Idee. »You are welcome!« sind die ersten Worte, die sie in Deutschland von der Polizei hören. Abdul ist begeistert. Für ihn beginnt eine Welt, in der er sich respektiert fühlt. Kein Brüllen, keine Gewalt, sondern Menschen, die helfen. Der Polizist lässt die Geflüchteten gehen: Er wünscht ihnen eine gute Weiterfahrt nach Schweden. Und rät dazu, sich zu beeilen.
Die drei Jungs lassen sich das nicht zweimal sagen. Sie fahren weiter Richtung Norden und landen in St. Andreasberg, mitten im Harz. Noch einmal erschrecken sie. Ein Polizist kommt angelaufen und fragt mit strenger Stimme, was sie hier wollen. Weiter nach Schweden, sagt Abdul. »Na dann müsst ihr hier weg«, rät der Polizist. Richtung Lübeck. Im Zug lässt Abdul seiner Freude dann freien Lauf. Er tanzt und singt für die Mitfahrenden. Die lassen sich anstecken und lachen. Sie alle haben es geschafft.
In Lübeck treffen die Freunde wieder auf Hilfsbereitschaft. Freiwillige des Lübecker Flüchtlingsforums bringen sie zum linken Hausprojekt »Walli«, jetzt umfunktioniert zum selbstorganisierten Flüchtlingslager. Eine Helferin besorgt ihnen Tickets für die Fähre nach Malmö. Abul hat jedoch kein Geld mehr. Noch einmal brechen wir aus unserer journalistischen Rolle aus. Wir schicken ihm 75 Euro, über Western Union, gängiges Bezahlinstitut der Geflüchteten.
Auf der Fähre tanzt Abdul weiter: In der Kabine gibt es richtige Betten, mit Kissen, Decken und Badezimmer! Was für ein absurder Kontrast zum lebensgefährlichen Schlauchboot nach Lesbos. So einfach könnte die Reise also auch sein.
Und dann: Schweden! Das Ziel ist erreicht. Auch hier werden sie willkommen geheißen. Abdul erhält wie alle Flüchtlinge eine kostenlose Sim-Karte. Mit ihrem syrischen Pass können sie außerdem kostenlos Bus und Bahn fahren. Die drei Freunde sind mehr als beeindruckt. Endlich angekommen.
Doch Abdul weiß, dass die Geschichte kein Happy-End hat. Nachts holen ihn die Bilder seiner Reise ein. Freunde aus Lesbos schicken ihm Fotos von einem ertrunkenen Kind. Das Leid an den EU-Außengrenzen hat kein Ende. Abdul beschließt, Freiwilliger zu werden, um Flüchtlingen auf ihrer Reise zu helfen. Da wird ihm klar, dass er Schweden nicht ohne weiteres verlassen kann. Die Sehnsucht packt ihn, nach seinem Heimatland Syrien, nach seiner Mutter und seinem Bruder. Über sechs Jahre hat er sie nicht mehr gesehen.
Am Telefon fragen wir ihn nach den Eindrücken seiner Flucht. Was muss sich ändern? »Stoppt den Krieg in Syrien«, sagt Abdul bestimmt. Als er weiterspricht, bricht seine Stimme. »Ich will zurück in mein Land.«
1. Teil: Abduls Reise: Von Izmir nach Athen
2. Teil: Die Westbalkanroute
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