Rüdiger mit Freudenfältchen
Deutschlandweit entstehen immer mehr Wohngemeinschaften für Wachkoma-Patienten
Die Nacht, die alles veränderte, liegt gut 14 Jahre zurück. Diana und Rüdiger Schmidt schauen daheim im Wohnzimmer einen Film, dann bleibt plötzlich Rüdigers Herz stehen. Ein allergischer Schock, vermutlich. Die Ärzte retten das Leben des heute 65-Jährigen, doch er fällt in ein Wachkoma.
Rüdiger Schmidt war der erste Bewohner in der Wohngemeinschaft für Wachkoma-Patienten im schwäbischen Mössingen. 2012 zog er dort ein, heute leben acht weitere Patienten da. Es ist eine alternative Wohnform für Menschen im Wachkoma, eine Einrichtung zwischen Pflegeheim und der Pflege zu Hause. Verwaltet wird die WG von den Familien der Bewohner. Angehörige haben die WG gegründet, weil sie unzufrieden waren mit der Pflege in Heimen - oder weil sie allein an der Aufgabe schier zerbrachen. Neben der Betreuung der Angehörigen bekommen die Mössinger WG-Bewohner eine 24-Stunden-Pflege von einem Team des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im Kreisverband Tübingen. Das Konzept scheint aufzugehen: »Werbung für unsere Wohngemeinschaft brauchen wir nicht. Die Nachfrage ist immens«, sagt Herbergsmutter Annette Saur, Vorsitzende des Vereins Ceres, der hinter dem Projekt steht.
Auch anderswo in Deutschland öffnen nach Angaben der Deutschen Wachkoma Gesellschaft solche Wohngemeinschaften. »Wir gehen davon aus, dass es pro Kreis bereits zwei bis drei gibt, also rund 1000 in ganz Deutschland«, sagt der Vorsitzende Armin Nentwig. »In den ersten Jahren ist es immer das Ziel, die Patienten ins Leben zurückzuholen«, sagt Saur. Doch selbst, wenn sie nie mehr aufwachten, verdienten sie ein menschenwürdiges Leben. Im Mössinger Haus Ceres sollen die Bewohner Sicherheit und Geborgenheit finden - und sich heimisch fühlen.
Die Angehörigen und Pfleger der Mössinger Wachkoma-WG wollen sich vor allem mehr Zeit nehmen, als es in gewöhnlichen Pflegeheimen der Fall sei, sagt Saur. »Man muss Vertrauen aufbauen, dann öffnet sich ein Wachkoma-Patient. Dann wird er lesbar.« Zum Beispiel könnten schnelles Atmen oder Spucken Zeichen für Unmut sein, oder kleine Fältchen im Gesicht Freude ausdrücken.
Sowie in diesem Augenblick bei Rüdiger Schmidt. Ganz kurz formen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Was für ein wunderschöner Moment«, sagt Diana Schmidt. Sie steht am Bett ihres Mannes, streichelt seine Hände, küsst ihn auf die Stirn und spricht leise zu ihm. Doch das Lächeln ihre Mannes weicht schnell, seine Augen bleiben zwar noch offen, doch der Blick geht ins Leere.
In der Mössinger Wohngemeinschaft hat jeder Patient ein eigenes privates Zimmer. Über dem Bett von Rüdiger Schmidt hängt ein Traumfänger, an den Wänden kleben Familienfotos. Die Räume des ehemaligen Forsthauses sind hell und lichtdurchflutet, die Parkettböden aus Eiche, Esche oder Buche. Es gibt auch ein Wohnzimmer, eine Küche, Gemeinschaftsbäder und einen Garten.
Das Leben in der Gemeinschaft soll die Last der Schicksale aller erträglicher gestalten, sagt Saur. Diana Schmidt nickt. »Die häusliche Pflege macht Familien kaputt«, berichtet sie, aus eigener Erfahrung. »Irgendwann gibt man sein eigenes Leben auf.« Vor allem den zwei Töchtern machte der Zustand des Vaters gehörig zu schaffen, vermeintliche Freunde hätten der Familie den Rücken gekehrt.
Ein pauschales Urteil, welche Pflegeform bei Wachkoma-Patienten am besten sei, will das Sozialministerium im Südwesten nicht fällen. »Keine Wohnform ist von vorneherein besser als die anderen«, sagt Sprecher Helmut Zorell. »Eine WG lebt ganz entscheidend davon, wie es gelingt, die Angehörigen und Ehrenamtlichen in den Alltag einzubeziehen.« Fehle es an dieser Einbindung, dann sei die stationäre Versorgung mit ihrer Versorgungssicherheit und mit ihren geprüften Standards die bessere Wohnform.
Für Diana Schmidt ist klar, dass die Wohngemeinschaft für ihren Mann geeignet ist. Sie könne jetzt beruhigt auch mal abschalten und am Haus der Wohngemeinschaft vorbeifahren - weil sie wisse, dass ihr Mann in der WG gut aufgehoben sei. dpa/nd
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