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Im kritischen Zustand

Thomas Edlinger über Verschwörungstheorien, Paranoia und einen falschen Begriff von Kritik

  • Lesedauer: 7 Min.
Thomas Edlinger lebt in Wien, arbeitet als Radiomoderator bei FM 4 und als Kurator und wird ab 2017 das Donaufestival in Krems leiten. In seinem aktuellen Buch »Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik« (Suhrkamp) diagnostiziert er, dass die Kritik in eine Sackgasse geraten ist, spätestens seit jeder jeden kritisiert und alle zu Kritikern geworden sind: die Impfgegner und Pegida-Demonstranten, Helikopter-Eltern und sogar der Papst. Edlinger zeichnet Linien von der Kritischen Theorie bis in die Gegenwart, zeigt die Verwässerung kritischen Denkens auf und beschreibt das Umschlagen der Kritik in Wahn und Verschwörungstheorie. Mit ihm sprach Jonas Engelmann.

Ihr Buch beschreibt ein Unbehagen an der Kritik. Woher kommt dieses Unbehagen, das Sie empfinden?
In den fünfziger und sechziger Jahren gab es zunächst zu wenig Kritik, und die musste man gegen die verhärteten, erstarrten Verhältnisse erst einmal zum Sprechen bringen. Irgendwann ist Kritik aber zu einer Art Selbstzweck geworden und hat ihre Funktion verändert, sie ist selbst ein Teil der Modernisierung der zu kritisierenden Verhältnisse geworden. Heute ist in vielen wissenschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen ohne Kritik überhaupt nichts mehr zu holen. Egal ob bei der Biennale oder beim Popfestival, mittlerweile gehört Kritik in jeden Rucksack, sie gehört zum Sound. Und so ist bei mir ein Unbehagen an der Kritik entstanden; etwas verwirklicht sich, aber anders als man hoffte und dachte, oder, in marxistischen Begriffen gesprochen, es verwirklicht sich als Farce.

Wenn Kritik zur Farce geworden ist, was ist denn an ihre Stelle getreten?
Natürlich gibt es weiter notwendige und sinnvolle Kritik. Aber die übersteuerte, überreizte Spielart der Kritik bezeichne ich mit dem polemischen Begriff der »Hyperkritik« , die z.B. gemeinschaftliche Anliegen, die etwas mit Solidarität, mit dem Heraustreten aus der eigenen Position zu tun haben, sabotiert und verunmöglicht. Das zeigt sich in Alltagsphänomenen wie der Impfkritik, die ein Indiz für den antiautoritären Verdacht seit den Sixties ist. Hier haben sehr viele Leute ihren Foucault verwendet, ohne dass sie Foucault gelesen haben. Impfkritik ist die Schwundstufe einer foucaultschen Machtdekonstruktion oder eines institutionskritischen Denkens, das Medizin als Machtapparat durchschaut hat. In der Impfkritik wird auch die übliche Frontstellung zwischen volkstümlicher Kritik und Hyperkritik durchkreuzt. Hyperkritisch sind jene radikalen Impfkritiker, die gegen wissenschaftliche Erkenntnisse ihre eigene, vor allem gefühlte Position, stark machen und nicht danach fragen, was eine empirische, datenbasierte Wissenschaft sagt. Dass ihre Kritik unwissenschaftlich sei und nur auf der eigenen Paranoia basiere, sagt man normalerweise den volkstümlichen Kritikern nach. Die volkstümlichen Kritiker, die sogenannten Durchschnittsbürger, sind in dem Fall aber die, die sagen: Ja, aber die Studien sagen doch, die Durchimpfungsrate ist wichtig. Für den typischen Hyperkritiker ist die Autorität vor allem etwas, gegen das man einen Verdacht hat. Dass sie unter einer Decke mit der Pharmaindustrie steckt und so weiter.

Da sind die Schnittstellen zu Verschwörungstheorien jeglicher Couleur, die Sie auch in Ihrem Buch beschreiben, natürlich sehr naheliegend.
Das ist es, was ich eigentlich unter dieser volkstümlichen Kritik verstehe. Paranoia und Verschwörungstheorien bieten einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge. Wer keinen besonderen kritischen Standpunkt einzunehmen imstande ist oder nicht dazu bereit ist, sich mit kritischem Besteck auszurüsten, der bezieht sich häufig auf die Schwundstufe der Verschwörungstheorie und weist sie als Kritik aus. Das kann man in jedem sozialen Netzwerk, in jedem Posting erkennen. Die Leute nehmen keine vorgegebene Weltdeutung mehr an, sondern beanspruchen für sich eine eigene, besserwisserische, vermeintlich kritische Haltung.

Das für mich überzeugendste Beispiel dieses unfriendly takeover des Kritikbegriffs findet sich im Begriff der »Asylkritik«. Daran kann man ganz gut feststellen, wie dieser Begriff von ganz rechts gekapert wird - mit »Asylkritik« ist ja nicht viel mehr als Hetze und Ressentiment gegen Asylsuchende gemeint - und in ein antikritisches Unternehmen eingedampft wird. Daran sieht man, wie attraktiv es geworden ist, eine kritische Haltung für sich einzunehmen und wie stark dieser antiautoritäre Impuls, sich von den Institutionen, von den Herrschenden nichts mehr sagen zu lassen, durchgesickert ist. Diese Leute werden dir sagen, die herrschenden Verhältnisse seien von der »Lügenpresse« und einem linksliberalen Mainstream geprägt, dem man endlich einmal die Wahrheit entgegen schleudern muss. Das ist der sich selbst als kritisch verstehende Verblendungszusammenhang, der dort hergestellt wird.

Noch mal einen Schritt zurück: Welche Entwicklung würden Sie für diesen Niedergang der Kritik verantwortlich machen?
Ich würde ansetzen bei der Hochphase und Erosion dessen, was man mal kritisches Bewusstsein in der Folge der Kritischen Theorie genannt hat. Das Hochamt der Kritischen Theorie wurde ja von den neuen sozialen Bewegungen in einem binnenlinken Diskurs angezweifelt, dekonstruiert. Das hat sehr viel mit verschiedenen kritischen Diskursen nach ’68 zu tun, wie sie Philipp Felsch auf eine sehr anschauliche Weise beschrieben hat. Was passiert eigentlich, wenn Kritische Theorie die Deutungshoheit über die neuen Verhältnisse verliert, wenn popkulturell geprägte Menschen sich durch sie einfach nicht mehr verstanden fühlen? Es kommt eine neue Form der Kritik auf, die aber nicht mehr in derselben Weise kritisch ist wie die Kritische Theorie, sondern die Kritik als stilisierte Dissidenz, als subversive Lebensform, als Sperrigkeit, als Nicht-Durchschaubarkeit von Gesten, von Rhetoriken formuliert. Solche Verschiebungen sind das eine; es hat sich aber in den neunziger Jahren auch eine Transformation des kritischen Denkens und Verhaltens durchgesetzt, das ich vor allem identitätspolitisch formulieren würde. Weg von einer ökonomistisch orientierten Kritik hin zu einer kulturalistischen. »Was ist der Westen?« ist eine der entscheidenden Fragen geworden, und das sieht man auch sehr gut an den akademischen Lehrangeboten: nicht mehr die Auffächerung der Interpretationen des Marxismus, sondern Postcolonial Studies, Critical Studies, Gender Studies. Das sind die neuen sich als kritisch verstehenden Reservate kritischen Denkens, die sich durchgesetzt haben. In bestimmten Kreisen, denen ich mich nahe fühle, wird dieser gegen-hegemoniale Diskurs geführt, der durchaus eine gewisse Macht hat. Wie wir wissen, ist Macht ein vielgestaltiges Phänomen, das zu den Paradoxien und Widersprüchlichkeiten führt, die ich in meinem Buch zu beschreiben versuche. Zum Beispiel, dass Kritik so zu einer Art Jargon wird und kaum ein sich als avanciert verstehendes Kunstprojekt mehr ohne diesen machtkritischen Begleitsound auskommt und damit selbst Macht ausübt.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch vom Einfluss der Postcolonial Studies auf die Religionskritik.
Eine linke, für selbstverständlich gehaltene Kritik an der Religion, die man mit Kritischer Theorie oder kritischem Bewusstsein verbinden könnte, ist selbst in die Krise gekommen. Man dachte fälschlicherweise, das Problem der Religionen als falsche Ideologie, falsches Bewusstsein sei erledigt. Aber es gibt eine Art zweites Leben der Religionen, die in einem Zombie-Zustand zurückkommen - und wie kritisiert man das jetzt? Wir haben bei den Postcolonial Studies gelernt, dass in dem, was man »Westen« nennt, eine Menge Schuld begraben liegt, die Ursache dafür, dass sich Leute zurück zu von uns als reaktionär verstandenen Denkformen sehnen. Die Renaissance des Islamismus ist aber ohne Imperialismus und Kolonialismus nicht denkbar - diese Denkfigur hat sich durchgesetzt. Psychoanalytisch tiefer gehängt könnte man sagen, es gibt ein westliches kollektives Subjekt mit schlechtem Gewissen. Und deswegen wird darüber anders gesprochen. Zu diesem moralischen Problem mit der Kritik kommt, dass Menschen, die aus muslimisch geprägten Ländern stammen, in zu starkem Ausmaß als Muslime identifiziert werden. Als könnten sie nicht auch ganz andere Lebens- und Denkformen im selben Körper beherbergen. Diese problematische Zuschreibung blendet aus, dass Muslime sich vielleicht nicht von Karikaturen beleidigt fühlen, aber trotzdem Muslime sind.

Während der Arbeit an Ihrem Buch ereignete sich auch der Anschlag auf die Redaktion von »Charlie Hebdo«. Auch diese Islamisten haben sich ja als »Kritiker« verstanden, der westlichen Kultur etwa.
Die Inanspruchnahme des Begriffs Kritik durch Dschihadisten, den Papst und andere Leute ist ein weiteres Problem. Sie üben ja auch Kritik an den Verwerfungen der modernen Gesellschaft, und ihre Diagnose ist teilweise gar nicht so weit entfernt von dem, was auch mich umtreibt, nur die Schlüsse daraus und die Antworten darauf sind diametral entgegengesetzt. Auch Sympathisanten des Dschihadismus sehen, in was für Krisen die ökonomische Verfasstheit der Welt geraten ist. Daran sieht man: Nicht jede Kritik ist per se fortschrittlich, es gibt auch Kritikformen, die eine Welt propagieren, in die wir beide wahrscheinlich nicht zurückkehren wollen. Das ist auch ein theoretisches Problem an der Kritik, dass normativ nicht ausgehandelt ist, wohin die Reise geht. Es gibt ja auch eine lange Tradition einer rechten, kulturpessimistischen Kritik.

Wenn heute alle kritisch sind, sogar der Papst, gibt es irgendwo kritische Störgeräusche, die noch funktionieren?
Interessant finde ich Phänomene einer starken Negativität, die ich in meinem Buch über Metalbands und Drone-Sachen wie Sunn O)))) zu beschreiben versuche, die verstummen, das kommunikative Angebot weitgehend runterfahren und sich fast in einer Nähe zum Autismus, Idiotismus aufhalten. In ihren Extremformen sind sie vielleicht eine Form der Überwindung des kritischen Betriebs. Diese Formen haben auch auf einer ästhetischen Ebene etwas Herausforderndes, ohne dass sie konkrete Zusammenhänge benennen. Denn das Problem der Kritik einer zeitgenössischen Kunstpraxis ist immer, dass in dem Moment, wo Kritik als Kritik benennbar und beherrschbar ist, sie domestiziert und eingehegt wird und als Kritik nicht mehr wirklich verwendbar ist. Deswegen ist es auch so schwer zu sagen, was kritische Kunst ist.

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