Der Mann, der den ersten Fall entdeckte
Vor 100 Jahren starb Alois Alzheimer, der Pionier einer folgenschweren Diagnose
Da stand er vor klugen Köpfen und wollte etwas berichten. Er hatte zwischen 1901 und 1902 einen einmaligen und sehr ernsten Fall erlebt. Der war ihm aufgefallen, und so hatte er sich lange damit befasst. Hatte immer wieder mit der 51-jährigen Patientin gesprochen, mit Auguste Deter. Das Gespräch wurde später berühmt und oft zitiert.
Doch am 3. November 1906 hatten die klugen Köpfe vor ihm dafür wenig Sinn. Als er genau darüber bei der 37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen sprach und seinen Vortrag »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde« beendet hatte, als es dazu Bilder gab und er befragt werden konnte, meldete sich von den 87 Zuhörern niemand. »Keine Diskussion«, vermerkt das Protokoll knapp. Referieren konnte er über diese Erkrankung, weil Frau Deter im April zuvor verstorben war. So konnte er ihr Gehirn genau untersuchen. »Die Präparate zeigen sehr merkwürdige Veränderungen der Neurofibrillen«, stellte er fest.
Wovon er seinerzeit erzählte, gehört nach heutigem Sprachgebrauch zu den Demenzen. Doch auch wenn sein Vortrag 1906 kein Interesse fand, wurde bald danach eine heute häufig diagnostizierte Form der Demenz nach dem Mediziner benannt: Alzheimer. Längst gibt es nicht nur diesen einen Fall, sondern weltweit Millionen. Allein für Deutschland rechnet man mit mindestens einer Million. »Bis 2030 könnte sich die Zahl verdoppeln«, so der Deutsche Ethikrat. Durch die weiter steigende Lebenserwartung erleben noch mehr Menschen als bisher jene Jahre, in denen Demenzen wie die Alzheimersche Krankheit häufiger auftreten.
Alzheimer steht für Ausweglosigkeit, schwierige Diagnostik, kaum mögliche Früherkennung, für fehlende Therapien und ein Tabu. Fachleute sprechen von einem Verlust der kognitiven Leistung, einer veränderten Persönlichkeit, von einer physischen und psychischen Zerreißprobe, von starken Lasten für alle, die diese Patienten behandeln und pflegen.
Die Alzheimer-Gesellschaft nannte schon 1998 den öffentlichen Umgang mit Demenzkranken »katastrophal«. Fachblätter sahen die senile Demenz als »großes Problem der Zukunft«, sprachen von »grauer Revolution«, vom »schleichenden Tod zu Lebzeiten«, beklagten die Verdrängung des Themas. Andererseits taten sich bald Selbsthilfegruppen zusammen, es gab Ratgeber für Experten wie für Laien. Romane, Theaterstücke, Filme über Alzheimer, ein Kinderbuch zum Umgang mit Alzheimer-Kranken - alles war und ist zu haben.
Der Mann mit dem heute so geläufigen Namen kam am 14. Juni 1864 zur Welt, in Marktbreit, einem Städtchen am Main südlich von Würzburg. Sein Vater war Notar, zum zweiten Mal verheiratet, die Mutter hieß Theresia. So berühmt der Sohn auch wird - eine Straße ist in Marktbreit nicht nach ihm benannt; das wäre wohl zu abschreckend. Das macht sich einfach nicht gut. Immerhin gibt es in Aschaffenburg, wo Alzheimer später lebte und das Abitur bestand, eine Allee seines Namens.
Gestorben ist er vor 100 Jahren, am 19. Dezember 1915 in Breslau, wo er seit 1912 Professor für Psychiatrie und Direktor der angesehenen »Königlich Psychiatrischen und Nervenklinik« war. Dazwischen liegt ein Leben aus Medizinsemestern in Berlin, Würzburg und Tübingen samt Promotion (1887 über die Ohrenschmalzdrüsen), aus Staatsexamen und Approbation, aus der ersten Stelle als Assistenzarzt in einer Irrenanstalt, wie man damals sagte, in Frankfurt am Main.
Er ist eifrig dabei, besucht Kongresse, schreibt Fachartikel und beginnt, sich einen Namen zu machen. Und er belässt es nicht beim Gelernten, nicht bei der Theorie. Er spricht im Detail mit Patienten und beobachtet sie genau - und ebenso das, was er nach Sektionen anhand von Hirnpräparaten an Besonderheiten erkennen kann. Mikroskope sind dabei besonders nützlich.
Die etablierten Kollegen Franz Nissl und Emil Kraepelin bewegen ihn 1903, nach Heidelberg zu wechseln. Die unerfreulichen Zustände dort lassen ihn aber rasch wieder Neues suchen. Diesmal ist es München; mit seiner Frau und den drei Kindern zieht er dorthin. Von 1903 bis 1912 wird die neue Königliche Psychiatrische Klinik der Universität in der Nußbaumstraße sein Arbeitsplatz; das Gebäude gibt es bis heute. Dort habilitiert er sich über »histologische Studien zur progressiven Paralyse«, wird Privatdozent und Oberarzt. Und da ein Privatdozent meist Professor werden will, steuert auch er das an. 1912 erhält er den Lehrstuhl in Breslau.
Zwei Jahre zuvor hatte Kraepelin, sein Münchner Chef, in einem Lehrbuch zur Psychiatrie erstmals den Namen Alzheimer mit jenen Beobachtungen verknüpft, über die der 1906 in Tübingen referiert hatte. Doch selbst Fachleute nahmen das kaum zur Kenntnis. Schon drei Jahre später stirbt Alzheimer; Herz und Nieren machen nicht mehr mit. Begraben wird er am 23. Dezember 1915 in Frankfurt, auf dem Hauptfriedhof. »Er hatte es sich verbeten, dass am Grabe gesprochen würde«, schreiben Konrad und Ulrike Maurer in ihrer höchst lesenswerten Biografie (»Alzheimer«, Piper, 2000). Eckart Roloff
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