Am Abgrund der Zeit

Wie feministische Utopien ihre Orte fanden. Von Regina Stötzel

Gut 100 Jahre vor Thomas Morus’ »Utopia« entwickelte die französische Schriftstellerin Christine de Pizan die damals ziemlich verrückte Vorstellung eines Ortes, an dem die Fähigkeiten von Frauen anerkannt werden. De Pizan kritisierte mit ihrem »Buch von der Stadt der Frauen« das Frauenbild der Kirche und die Abwertung von Frauen durch andere männliche Zeitgenossen, während sie beispielsweise die Ehe keineswegs in Frage stellte. Wie bei den meisten literarischen Utopien handelt es sich auch bei ihrer nicht um ein visionäres, von allem Irdischen befreites Gedankenspiel eines Menschen mit überbordender Fantasie, sondern sie fußt in der Gegenwart. Die Kritik am Hier und Jetzt, das, was als falsch, ungerecht oder als Mangel empfunden wird, ist ins Positive gewendet.

Dass in der utopischen Literatur von Männern den Geschlechterverhältnissen in der Regel keine größere Bedeutung zugemessen wird, mag in der Natur der Sache liegen. Eine bessere Welt kommt in den Entwürfen männlicher Autoren wunderbar ohne diesbezügliche grundlegende Veränderungen aus. Dagegen war es für Frauen ans naheliegenden Gründen häufig ein zentrales Anliegen, eine Welt zu schaffen, in der sie zu ihrem Recht kommen und Fortpflanzung, Zusammenleben und Sinnlichkeit für sie angenehmer gestaltet sind. Deshalb gilt utopische Literatur von Frauen schnell als feministisch, ohne dass dies eine genaue Aussage über den emanzipatorischen Gehalt eines Werkes zulässt.

Weder in der Realität noch in der Fantasie männlicher Autoren finden Frauen das, was ihnen fehlt, im Gegenteil: »Klassische Utopien der Männer sind für Frauen eher ein Ort von Unterdrückung, Feindschaft und Bedeutungslosigkeit«, stellte Bettina Roß für ältere Werke fest. Kein Wunder, dass einige feministische Utopien gleich eine Gesellschaft ganz ohne Männer entwerfen, wie zum Beispiel Charlotte Perkins Gilman 1915. Die Bewohnerinnen von »Herland« pflanzen sich durch Parthenogenese (= Jungfernzeugung) fort und sind ansonsten asexuell. Selbst für eine US-amerikanische Frauenrechtlerin wie Gilman lag die Möglichkeit von Lust und Sinnlichkeit jenseits herkömmlicher heterosexueller Verbindungen offenbar nicht gerade auf der Hand. Überhaupt findet man vor 1960 wenig Innovatives, was die Geschlechterverhältnisse angeht. Es bleibt, so stellt Roß fest, meist bei zwei Geschlechtern, Kleinfamilien und geregelter Heterosexualität - mit der Betonung auf geregelt.

Das ändert sich schlagartig, als sich die Gesellschaft ändert. Zwar gibt es auch etwa in Marge Piercys »Frau am Abgrund der Zeit« (1976) die schlichte Aufwertung dessen, was in der Realität nicht wertgeschätzt wird, wenn Luciente, das Wesen aus der utopischen Welt, zu Conny aus der Romanrealität sagt: »In unserer Kultur wärst du eine außergewöhnliche, viel bewunderte Persönlichkeit - in dieser hier vermutlich nicht, oder?« Doch auch aktuelle Theorien und Überlegungen der neuen Frauenbewegung (und der Psychiatriekritik) sind unschwer darin zu erkennen.

So handelt es sich bei der Hauptfigur Conny nicht zufällig um eine Unterschichtsfrau in den USA, eine Latina, die buchstäblich krank gemacht und in den Wahnsinn getrieben wird. Piercy greift die zu dieser Zeit unter US-amerikanischen Feministinnen diskutierte Erkenntnis der Triple Oppression, also der Unterdrückung nach »Race, Class & Gender« auf. In ihrer utopischen Gegenwelt spielen dagegen Herkunft, Schichtzugehörigkeit und Geschlecht eben keine Rolle für den Wert eines Menschen. Stattdessen leben Frauen und Männer, viele von ihnen mit »neutralen« Namen, in einem Geflecht von frei gewählten sozialen Beziehungen (»Herzfreunde«, »Handfreunde«, »Kissenfreunde«, …), Kinder werden gemeinsam von sozialen »Comüttern« aufgezogen, der Begriff der Familie ist weit gefasst, während der »Kern« die Liebsten sind, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Jeder hat in dieser Gesellschaft seinen Platz, entsprechend seinen Vorlieben und Begabungen, und schon die Kinder werden danach gefördert. Eigentum gibt es nur in der Gemeinschaft, man lebt frei und gefühlsbetont, ist autark und öko, aber nicht technikfeindlich, hat den Zusammenhang zwischen Agrarindustrie und Hunger erkannt sowie Altes und Neues »zu etwas Besserem, zu etwas wirklich Gutem« vereint. Die Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen spiegeln sich auch in der Sprache: Neben vielen Namen sind auch die Pronomen geschlechtsneutral, und wo die herkömmlichen Bezeichnungen für soziale Beziehungen nicht taugen, werden neue kreiert.

Dennoch ist Piercys utopische Welt keine Teletubbie-Blumenwiese, sondern entschlossen kämpferisch gegenüber Bedrohungen: »Macht ist Gewalt und noch nie auf friedliche Weise beseitigt worden«, erklärt Luciente. »Wir kämpfen alle, wenn wir mit dem Rücken an der Wand stehen - oder eine Wand niederreißen. Weißt du, wir töten Menschen, die es darauf anlegen, andere zu verletzen. Wir glauben nicht, daß es richtig ist, sie zu töten. Nur angebracht. Wer möchte denn ständig einen anderen unter Kontrolle halten?«

Marge Piercys Utopie - damals für Feministinnen nicht sprachlich, aber gedanklich eine Offenbarung - ist nach wie vor fern der Wirklichkeit und hat doch mit den Jahren an Reiz verloren. So progressiv der Gesellschaftsentwurf sein mochte, haben doch beinahe alle Elemente sozusagen einen Ort gefunden und sind im Wortsinn nicht mehr utopisch. In Kommunen, WGs und Patchworkfamilien wurden schon verschiedenste Beziehungen gelebt, der Trend zu lokalen Ökoprodukten ist so aktuell wie die gewöhnungsbedürftigen Versuche geschlechtsneutraler Sprachregelungen. Antidiskriminierungs- und andere Gesetze, Absichtserklärungen und Forderungskataloge stellen zumindest auf dem Papier verschiedenste Lebensrealitäten gleich. Alles Weitere findet sich in kapitalismuskritischen Texten.

Der Zeit des Aufbruchs nach 1968 folgten politische Ernüchterung und die Erkenntnis, dass die Welt trotz aller Fortschritte nicht wesentlich besser und die Menschen nicht glücklicher geworden sind. Den utopischen 70ern, so schreiben Wissenschaftlerinnen vom Marburger Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung, folgten die dystopischen 80er inklusive Cyberpunk. Mit der Schwächung linker und progressiver Kräfte seit den 90ern hätten die literarischen Utopien merklich abgenommen. Während technologisch beinahe nichts mehr unmöglich scheint, man sich selbst zur Cyborg deklarieren kann und schon IS-Kämpfer*innen mit Sternchen geschrieben werden, dämmert die Gesellschaft in vermeintlicher politischer Alternativlosigkeit vor sich hin.

Eine zeitgemäße und originelle literarische feministische Utopie zu entwickeln ist schwierig geworden. In jedem Fall müsste es sein, was Frigga Haug für ihre politische Vision einer »Vier-in-einem-Perspektive« formulierte: »eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist«.

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