Ebola, Aids und Pink Viagra
Ein Blick zurück: Über Fortschritte, Kuriositäten und Fehlschläge der Medizin im Jahre 2015
Nicht nur Krieg und Terror brachten im Jahr 2015 unsägliches Leid über Millionen Menschen. In vielen Teilen der Welt wüteten überdies gefährliche Infektionskrankheiten, die mitunter völlig unerwartet auftraten. Beispiel Masern. Anders als gemeinhin angenommen, handelt es sich hierbei keineswegs um eine harmlose Kinderkrankheit. An Masern können auch Erwachsene erkranken. Außerdem kommt es in 20 bis 30 Prozent aller Fälle zu Komplikationen, die nicht selten zum Tod führen.
Allein in Berlin wurden zwischen Oktober 2014 und April 2015 mehr als 1000 Masern-Neuerkrankungen registriert. Aber auch in Bayern, Brandenburg und Niedersachsen trat die Krankheit regional gehäuft auf. Schuld daran war unter anderem eine zu geringe Impfquote in den jeweiligen Regionen. Viele Eltern lassen ihre Kinder nicht impfen, weil sie befürchten, dass die Vakzinen gesundheitsschädigend seien. Zwar geht die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) hin und wieder mit Nebenwirkungen einher, doch in der Regel sind diese eher unbedenklich. Allgemein gilt: Erst wenn 95 Prozent der Bevölkerung gegen Masern geimpft sind, lässt sich die Krankheit dauerhaft eliminieren. Von einer solchen Zahl ist man in Deutschland vielerorts noch ein gutes Stück entfernt.
Einen großen, wenn auch verspäteten Erfolg gab es bei der Bekämpfung des Ebola-Virus. Das britische Medizinjournal »The Lancet« setzte in seinem Jahresrückblick das Thema sogar auf Platz eins der medizinischen Fortschritte. Die Ebola-Epidemie, die Anfang 2014 in Westafrika ausgebrochen war und anschließend über 11 000 Todesopfer gefordert hatte, ist inzwischen abgeklungen, auch in den am stärksten betroffenen Ländern Guinea, Sierra Leone und Liberia. Am 7. November 2015 wurde Sierra Leone von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ebolafrei erklärt. Ein erneutes Aufflackern der Seuche ist hier wie anderswo dennoch möglich, denn das Ebola-Virus kann in einigen Körperregionen monatelang überleben. Wie schwierig es ist, eine Krankheit für »besiegt« zu erklären, zeigt das Beispiel Liberia. Nachdem man hier bereits im Mai 2015 geglaubt hatte, dass das Land frei von Ebola sei, kam es nachfolgend zu weiteren Neuinfektionen.
Beim Ausbruch der Epidemie gab es keinen Ebola-Impfstoff. Die intensive Forschung danach begann erst, als die Krankheit auch zu einer Gefahr für westliche Länder zu werden drohte. Zwar kam ein neu entwickelter Impfstoff nicht mehr zum Einsatz, er konnte aber immerhin in einem Feldversuch in Guinea erfolgreich getestet werden: Die geimpften Personen waren nach zehn Tagen nahezu vollständig vor dem Ebola-Virus geschützt.
Wie aus einem jüngst veröffentlichten WHO-Bericht hervorgeht, starben in diesem Jahr rund 440 000 Menschen an den Folgen der Malaria. Das ist zweifellos eine hohe Zahl, aber sie liegt erstmals unter der Grenze von einer halben Million. Erfolge bei der Bekämpfung der von Stechmücken übertragenen Tropenkrankheit gab es vor allem in Afrika. Hier ist dank des Einsatzes von Moskitonetzen, Mückensprays und neuen Medikamenten die Zahl der Malariatoten seit dem Jahr 2000 um 66 Prozent gesunken, bei Kindern unter fünf Jahren sogar um 71 Prozent.
Rückläufig ist seit längerem auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen - von 3,1 Millionen im Jahr 2001 auf derzeit etwa zwei Millionen. Nach einem Bericht des Anti-Aids-Programms der Vereinten Nationen (UNAIDS) leben heute 36,9 Millionen Menschen mit dem HI-Virus. Davon haben 15,8 Millionen Zugang zu einer antiretroviralen Therapie. 2010 waren es bei 34,4 Millionen Infizierten nur 7,5 Millionen. »Die Zahl der Menschen, die eine lebensrettende Behandlung erhalten, verdoppelt sich alle fünf Jahre«, sagt UNAIDS-Direktor Michel Sidibé. Sollte diese Entwicklung anhalten, so seine Prognose, könnte Aids bis zum Jahr 2030 gestoppt und die Zahl der HIV-Neuinfektionen und Todesopfer um 90 Prozent reduziert werden. Dafür ist es jedoch notwendig, dass alle HIV-Infizierten von ihrer Ansteckung wissen, was laut UN bei etwa 17 Millionen Betroffenen gegenwärtig nicht der Fall ist. Zwar wird es auch nach 2030 Menschen geben, die HIV-positiv sind, doch diese Diagnose wäre für sie kein Todesurteil mehr.
Als Glücksfall für die Medizin könnte sich eine Entdeckung auf dem Gebiet der Gentechnik erweisen, die vom US-Fachjournal »Science« zum Durchbruch des Jahres 2015 gekürt wurde. Mit dem sogenannten CRISPR/Cas-System, einer Art molekularen Schere, lassen sich defekte Gene aus dem Erbgut herausschneiden und durch gesunde ersetzen. Bei erblichen Bluterkrankungen wie der Sichelzellenanämie gilt das als hoffnungsvoller therapeutischer Ansatz. Schon heute ist es möglich, Gene in das Erbgut von Malariamücken zu schleusen und diese dadurch unfruchtbar zu machen. Doch bei aller Euphorie wirft die CRISPR-Technik auch ethische Fragen auf. Denn im Prinzip wäre es damit möglich, Eltern zu einem Designer-Baby zu verhelfen, das die gewünschte Haut- oder Hautfarbe hat.
Zu den eher fragwürdigen medizinischen Produkten des Jahres 2015 zählen viele Experten die »Lustpille« für die Frau, die in den USA seit kurzem unter dem Namen »Addyi« erhältlich ist. Das auch als »Pink Viagra« bezeichnete Präparat enthält den Wirkstoff Flibanserin, der in den Stoffwechsel des Gehirns eingreift und damit, wie die Hersteller versprechen, bei Frauen den sexuellen Appetit steigere. In Studien berichteten Teilnehmerinnen, die zuvor zwei bis drei lustvolle sexuelle Erlebnisse im Monat gehabt hatten, dass es nach Einnahme der Pille vier gewesen seien. Für einen derart bescheidenen Erfolg muss eine Frau Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindel und Angstzustände in Kauf nehmen und recht tief in die Tasche greifen: Eine Monatspackung »Addyi« kostet 400 Dollar.
Wie jedes Jahr hat eine der ältesten Medizinzeitschriften der Welt, das »British Medical Journal« (BMJ), auch 2015 in seiner Weihnachtsausgabe Studien veröffentlicht, die selbst die Herausgeber des Blattes als kurios bezeichnen. So haben Forscher des Stockholmer Karolinska Instituts alle Verweise auf Bob Dylan in der medizinischen Fachliteratur zusammengetragen. Und zwar ausgehend von einem Aufsatz, der 1997 in der Zeitschrift »Nature Medicine« erschienen war. Titel: »Nitric oxide and inflammation: The answer is blowing in the Wind«. Darin geht es um die Stickoxidmessung in den Atemwegen und im Darm. Allein 2013 fanden Titel- oder Songzeilen von Dylan 727-mal Eingang in die Fachliteratur. Das am häufigsten verwendete Zitat lautete: »The Times They Are a-Changin'«.
In einem weiteren Beitrag weist ein Forscherteam um den niederländischen Neurologen Bastiaan Bloem darauf hin, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den sogenannten Revolverhelden-Gang pflege, bei dem der rechte, sprich dominante Arm beim Gehen kaum schwinge. Das sei oft ein Zeichen von Parkinson, so Bloem. Da Putin aber keine anderen Symptome zeige, habe er seinen Gang vermutlich als Ex-Agent des KGB erlernt: Um bei Gefahr schnell zur Waffe greifen zu können, müsse die dominante Hand möglichst nahe am Körper bleiben.
Kurios an den Weihnachtsartikeln des BMJ ist nicht nur deren Inhalt, sondern auch die Tatsache, dass sie allesamt den üblichen Peer-Review-Prozess durchlaufen haben. Das heißt, sie wurden von anderen Forschern begutachtet, was offenkundig nicht immer ein Ausweis für besondere Qualität ist.
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