Tanz auf Messers Schneide
Ballett nach Oscar Wilde: In Cottbus wurde Lode Devos’ Choreografie »Das Bildnis des Dorian Gray« uraufgeführt
Am Ende Nacht, so schwer wie der Erdball. Irritation. Spotlight fällt. Schock. Ein Schweigen der Hände, Zehen und Herzen. Schlimmes ist passiert. Blutig das Kleid der liebenden Sybil. Hingemordet der Freund Basil. Verstoßen die ungeliebte Hetty. Tot der Mörder daselbst: Dorian Gray. Auf dem Stuhl vorn ebenso gefasst wie fassungslos Lord Henry, der Hintergrundmann, der Drahtzieher, der Schuldigmacher. Eine mephistophelische, ungoethische Gestalt. Tragische Musik blendet weg. Dann Beifall, der nicht enden will.
Es kam eine phantastische Aufführung. Alles stimmte, das Libretto, die Bühne, die choreografischen Arrangements, die Artistik, die Virtuosität, der Ausdruck, die Musik. An den Schläfen der Tänzerinnen und Tänzer ließ sich ablesen, wie konzentriert die Gruppe gearbeitet hat und wie sehr es ihr darauf ankam, dass diese Arbeit dem Publikum gibt, was es verdient, nämlich höchste künstlerische Qualität. Was wäre die Bühne ohne die Anmut, das Tempo, die Begierden des Tanzes? Wie viel fehlte dem Leben im Guckkasten, würden die Konflikte nicht mit der ganzen differenzierten Körperlichkeit und aus dem Wissen um die zerbrechliche Einheit von »Leib und Seele« ausgetragen werden?
Freilich animiert der Romanstoff des Oscar Wilde, poetisiert im Zeitalter des Fin dé siecle, immer wieder dazu, moderne Choreografien zu bauen und die Erzählung neu oder verändert zu lesen. Diese Erzählung ist zeitlos, und mehr als das. Was wäre ihre Umsetzung wert, würde sie nicht in diese von selbsternannten Weltordnern blutig zugerichtete Jetztwelt passen? Tanz nach dem gegebenen Libretto wirkt vor dieser Unbill wie ein Tanz auf des Messers Schneide.
Das konkrete Geschehen rankt um jenen Spiegel, der Schönheit wiedergibt und zeigt, wie diese beschlägt, mehr und mehr verwelkt, unkenntlich, ja mörderisch schmutzig und blutig wird. Am Ende kehrt das Bildnis des Dorian Gray als unversehrtes Prachtgebilde wieder. Doch es ist zu spät. Der schuldig gewordene Held wirft sich davor, als würde er in dem Moment die Welt in ihrer ganzen Unerträglichkeit erfahren, und stirbt elendiglich. Wilde formiert das Bild von Schönheit und deformiert es als Blendwerk, als Irrtum. Und er lenkt dessen Zerrbilder schließlich geradewegs in die Katastrophe. Das ist wie der falsche Liebeszauber im »Rosenkavalier« seinerzeit vor der Kulisse des Weltkrieges.
75 Minuten Tanzkunst auf höchstem Niveau. Der Belgier Lode Devos, klassisch wie modern ausgebildet unter anderem an der Schule des berühmten Maurice Béjart, hat mit dem Cottbuser Kollektiv alles in der Hand gehabt und in eine hochstehende Ensembleleistung eingebracht. Devos schrieb das fünfteilige Libretto, choreografierte und machte selbst die Bühne. Womöglich liegt darin das Geheimnis jener Geschlossenheit des Abends, welche die Leute in der Kammerbühne erleben durften.
Die materielle Bühne hat nicht viel. Ein Stuhl darf sein. Ablage für Kleider und Ausruhpunkt, der Pausen setzt. Pappquader mit roten Schraffuren, beweglich, konturieren den Raum. Sie bilden Podeste für die modellhaft angetippten aristokratischen Feste, auch Mauern und hohle Gassen, an deren Ende jenes edle Bild den Zuschauern entgegenblickt. Schönes Gesicht auf hellem Grund, Augen wie die des Amfortas, der seine »heilige Lanze« noch versteckt hält. Glück, Zuversicht spiegeln sich in diesem Antlitz.
Die Tanzgeschichte beginnt friedlich. Der athletische Gray mit nacktem Oberkörper, erhabene, römisch-heldische Figur, er tanzt sich in Pose. Die Freunde des schönen Jünglings, Basil und Henry, umgarnen je verschieden ihren Helden und drücken ihre Ergebenheit aus. Gray erwidert aufs Anmutigste. Henry, den Stefan Kulhawec in seiner Hinterlist und Bosheit tanzt, inkarniert hier noch sein scheinhaftes Wesen, eins, das sich mehr und mehr nach außen kehrt. Er ist neben der Aristokratengesellschaft, die auf wenige Tänzer reduziert ihren Reigen aufführt, die eckigste Figur. Schlank, schwarz berockt, rankün bis in Lippen und Glieder, gibt Lord Henry die Zeichen des Verfalls der Beziehungen. Der kleine Niko König tanzt den Basil zwar weniger artistisch, aber desto mehr in der Fülle wirklich gefühlter Liebe. Das geht bis in die Fingerspitzen und Augenaufschläge. Wer würde seine sensitiven körperlichen Gebärden nicht gerne anschauen? Die schlanke Greta Dato als Sybil aus dem Vorstadttheater steht diesem hohen tänzerischen Schöpfertum in nichts nach. Gray liebt sie, stößt sie weg, tötet sie, ohne den Degen zu zeigen. Sybils Kleider bluten und das Bildnis mit.
Die toten Basil und Sybil sind auf der Bühne nicht tot, sie tanzen mit dem lebenden Gray ihren Totentanz. Vollführt im Zeichen der Strenge derer, die es nicht wünschen, berührt zu werden. Hier rächt sich die Beziehung in der Beziehungslosigkeit und treibt den Konflikt zu Weißglut. Dorian ergötzt sich daran so sehr, wie er fast daran verzweifelt. Ein Dorian, der von Jason Sabrou in jeder Nuance glaubhaft und vollendet seinen umfänglichen Part gibt. Kürzere Auftritte hat Denise Ruddock in Gestalt der bald verstoßenen Hetty, für Gray eine Frau, mehr lästig als der Liebe wert. Feinsinnig choreografiert und sinnstiftend eingesetzt sodann die teils parallel montierten Ensembles.
Glücklich nicht zuletzt der Griff ins Repertoire möglicher Musiken. Jedem einzelnen Abschnitt sind zumeist klassisch-romantische Partien aus dem Lautsprechern zugeordnet. Spanische Rhythmen verstärken die falschen Glücksverheißungen des Beginns. Der zweite Teil trägt unfestliche Takte aus einem Schubert-Klaviertrio in den Vorgang. Adagio-Klänge aus Rachmaninows zweitem Klavierkonzert strukturieren den dritten Teil. Aufwühlende Passagen aus Schönbergs »Verklärter Nacht« begleiten die Szenerie der Ermordung des Basil. Mit der langsamen Ausblendung von Rachmaninows tragischer Tondichtung »Die Toteninsel« schließt die Aufführung.
Nächste Vorstellung am 30. Januar
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