Hightech ohne Haftpflicht
Die EU will neue Regeln für Medizinprodukte, doch die Hersteller wollen keine Verantwortung übernehmen
Wer kennt diese Geschichten nicht: Der künstliche Nagel gebrochen, das Silikon aus dem Implantat ausgelaufen, der Herzschrittmacher kaputt, die Teststreifen untauglich. Medizinprodukte sind nicht selten von schlechter Qualität. Seit langem fordern Patientenverbände, Krankenkassen und Experten hier Abhilfe, vor allem durch strengere Gesetze. Die sollen nun kommen. So soll das künstliche Gelenk verpflichtend einen Implantatpass haben, damit bei Fehlern der Weg zum Hersteller verfolgt werden kann. Die schon jetzt übliche Zertifizierung als Medizinprodukt wird es aber weiterhin bei einer nichtstaatlichen, »benannten Stelle« durchlaufen. Treten Probleme auf, müssen sich Meldungen darüber erst einmal in einer europaweiten Datenbank in dem Maße sammeln, dass eine Überprüfung erwogen oder gar der weitere Marktzugang verwehrt wird. Bei der Entschädigung für den Prothesenfehler bleibt der Patient mit einiger Wahrscheinlichkeit weiterhin schwächstes Glied der Kette: Eine Produkthaftung der Hersteller ist nicht verpflichtend vorgesehen, die Operateure in den Kliniken werden sich zu wehren wissen - beziehungsweise ihre Berufshaftpflichtversicherungen tun das in gewohnter Weise für sie.
Es geht aber nicht nur um möglicherweise fehlerhafte Knieprothesen. Die Liste der Medizinprodukte reicht vom einfachen Holzspatel über das Operationsbesteck bis hin zu Prothesen und Implantaten. Jahrzehntelang brachten die Hersteller ihre Produkte nach nur wenigen Prüfungen auf den Markt. Verantwortlich für die Zertifizierung waren und sind in Deutschland TÜV oder DEKRA, die sogenannten benannten Stellen. Die Bestimmungen sind hier deutlich lockerer als für Arzneimittel. Spätestens seit 2010 der Betrug mit Brustimplantaten aufflog, ist der Regelungsbedarf offensichtlich. Der französische Hersteller PIP hatte nach der Zertifizierung seiner Brustimplantate durch den TÜV Rheinland später billigeres Industriesilikon verwendet. Tausende Anwenderinnen kamen zu Schaden.
Die bisherige Gesetzgebung stammt aus den 1990er-Jahren - etliche Produkte, etwa aktive Implantate, die kontinuierlich Arzneimittel in den Körper abgeben, gab es damals noch nicht. Jetzt wird für die EU neu geregelt, wie der bisher leichte Marktzugang für solche Produkte erschwert werden soll, und zwar über eine Verordnung, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar rechtsgültig ist. Die Debatte darüber läuft auf Hochtouren. Es stehen sich die Positionen der EU-Kommission, des Rates der Gesundheitsminister und Forderungen aus dem Europäischen Parlament gegenüber.
Während Ärzte und gesetzliche Krankenkassen möglichst klare Regeln wollen, malt die Industrie das Gespenst verhinderter Innovationen an die Wand. Matthias Dettloff vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen erinnert daran, dass in dem Bereich überhaupt erst Transparenz hergestellt werden müsse: »Es gibt zum Beispiel keine zentral gesammelten Informationen über die auf dem Markt befindlichen Herzschrittmacher.« Auch in Zukunft werden derartig sensible Hilfsmittel wohl weiter ohne Produkthaftpflicht zur Anwendung gebracht. Schon jetzt, so Dettloff, wehrten sich die Hersteller mit »dubiosen Strategien« gegen Regressforderungen.
Parallel zu den Medizinprodukten wird auch eine Verordnung über In-vitro-Diagnostika verhandelt. Diese Verfahren werden außerhalb des menschlichen Körpers angewandt. Dazu zählen viele Tests sowie das erforderliche Zubehör - darunter Plaste-Urinbecher, HIV- und DNA-Tests. Etwa 40 000 Produkte rechnet der Verband der Diagnostica-Industrie dazu. Der Markt bringt in der EU einen Umsatz von 10,6 Milliarden Euro pro Jahr.
Wichtiger Bestandteil bei der Verordnung sind Risikoklassifizierungssysteme, in die alle Produkte einzuordnen sind. Umstritten ist hier beispielsweise die Einordnung einfachen Zubehörs, wenn dieses von Patienten selbstständig genutzt wird.
Einiges wird sich für die Hersteller sicher verändern: Die benannten Stellen können in Zukunft unangekündigte Besuche, sogenannte Audits, in den Unternehmen machen. Die eingesetzten Teams müssen pro Firma alle zwei Jahre wechseln. Ein Implantat-Pass soll eingeführt werden. Auch wenn die benannten Stellen personell erweitert werden müssen, um alle neuen Aufgaben zu bewältigen - dieses nichtstaatliche, dezentrale System bleibt bestehen. Kritiker beklagen, dass die Einrichtungen schon selbst zu sehr Unternehmen sind. Bislang war es für die Hersteller sogar möglich, mit ihren Produkten zu weniger kritischen Einrichtungen in einem anderen EU-Land auszuweichen.
Fraglich scheint auch, ob jede der vorgesehenen Maßnahmen die Patientensicherheit erhöht - oder nur die Bürokratie, wie die Hersteller befürchten. Wird die Position des Rates durchgesetzt, rechnen die Produzenten mit Mehrausgaben von 1,5 Milliarden Euro.
Umstritten ist unter anderem noch, welches Verfahren für Hochrisikoprodukte verpflichtend wird. Sollen diese Implantate oder Tests nur anlassbezogen geprüft werden, wenn es bereits Hinweise auf Fehler gibt? Oder - im Interesse aller Patienten doch eher produktbezogen? Eine allgemeine Haftpflicht für die Hersteller lehnt der Rat jedenfalls ab. Zu den Forderungen aus dem Europäischen Parlament gehören klinische Prüfungen, die denen für Arzneimittel angepasst werden sollen. Der Rat trägt auch dies nicht mit.
Nach Informationen des Europa-Abgeordneten Peter Liese (CDU) soll unter der Ägide der EU-Kommission jedoch eine Datenbank geschaffen werden, die Fehlermeldungen registriert. Eine ebenfalls dort angesiedelte Koordinierungsgruppe soll daraus Überprüfungsanlässe filtern. Die Hersteller begrüßen dieses anlassbezogene Vorgehen mit dem Argument der schieren Masse der Produkte. Würde alles überprüft, gebe es nur noch ein »weißes Rauschen«.
Verbessert werden sollen die Regeln auch dafür, nicht zuverlässige Tests und andere Produkte schnell vom Markt nehmen zu können. Eine Einigung über die beiden Verordnungen könnte in diesem Sommer erreicht werden.
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