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Rapallo war und ist der Weg
Der Historiker Stefan Bollinger fragt: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«
Hysterie gegen Russland wird seit über einem Jahrhundert gepflegt. In der Hochzeit des Kalten Krieges konterte der Dichter Jewgeni Jewtuschenko das westliche Geschrei von der »sowjetischen Bedrohung« mit den Versen: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« Die Frage griff der Berliner Historiker Stefan Bollinger auf, titelte mit ihr seine faktenreiche, quellengestützte Untersuchung über die Ursachen und verhängnisvoller Folgen antirussischer und antisowjetischer Hetze deutscher Ideologen, Politiker, Militärs und Wirtschaftskapitäne gestern wie heute.
Seiner Ansicht nach kam die Feindschaft mit dem Übergang zum Monopolkapitalismus auf, als sich Deutschland anschickte, eine imperialistische Großmacht zu werden und nach der Vorherrschaft in Europa und der Welt drängte. Für das erste entsprechende kriegerische Unternehmen zur Erringung neuer Märkte, Rohstoffe und billiger Arbeitskräfte (1914 - 1918) war die Gewinnung der eigenen Bevölkerung erforderlich. Die stärkste Partei und Fraktion im Reichstag seit 1912, die Sozialdemokraten, waren - wie ihre Altvorderen Karl Marx und Friedrich Engels - entschiedene Gegner des russischen Zarenreichs, das imperiale Ambitionen zeigte und die Opposition im eigenen Land brutal unterdrückte. An dieses sentimental-einseitige Feindbild in der SPD, für das einerseits die »Flintenrede« August Bebels von 1904 wie auch die von den Parteirechten überstrapazierte, in die Bewilligung der Kriegskredite und Burgfriedenspolitik mündende »Vaterlandsliebe« steht, konnte das Kartell der Kriegstreiber anknüpfen: Kaiser Wilhelm II. und sein Generalstab sowie die Spitzen des Industrie- und Finanzkapitals. Der Schandfrieden von Brest-Litowsk, den das junge Sowjetrussland 1918 mit den Mittelmächten abschließen musste, brachte eine neue Qualität in die internationalen Beziehungen, die in den folgenden sieben Jahrzehnten von einer weltweiten Systemauseinandersetzung dominiert wurden.
Bollinger analysiert in seiner historisch-politischen Streitschrift das Auf und Ab in den deutsch-sowjetischen Beziehungen, beschreibt Chancen sowie Katastrophen. Deutschlands politische und wirtschaftliche Funktionseliten brachen im Ersten Weltkrieg und während der nachfolgenden militärischen Intervention beachtliche Gebiete aus Sowjetrussland mit Hilfe heimischer Separatisten und Nationalisten heraus, annektierten und plünderten hemmungslos. Im Kapitel »Chancen und Teufelspakte« werden einige scheinbare »Lichtblicke« in den deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit in Erinnerung gebracht - Rapallo 1922, als die beiden politisch isolierten Staaten diplomatische Beziehungen aufnahmen, und der Folgevertrag von Berlin 1926. Dazu zählen aber auch die umstrittenen Vereinbarungen zwischen Reichswehr und Rote Armee von 1923 und der von den Außenministerne Ribbentrop und Molotow unterzeichnete Vertrag von 1939. In diesem Kontext entlarvt Bollinger die Mär von den »gleichen Brüdern« Hitler und Stalin, die sich gegen Polen verschworen hätten. Bei allem kritischen Urteil eignet sich der 23. August, das Datum des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages, nicht als ein Gedenktag für die Opfer »totalitärer Regime«, zu dem er vor Jahren von der EU erhoben wurde. Bollinger scheut sich aber auch nicht, auf bestimmte, an historischen Wendepunkten auftauchende, irritierende Verbindungen zwischen Rechtskonservativen oder gar extremen Rechten zu Linken zu verweisen, die fatal an aktuelle Querfronten erinnern.
Das Kapitel »Der Jahrhundertkrieg und die Folgen« vermittelt ein präzises Bild über den zweiten Anlauf deutscher Ostexpansion 1941. Die versuchte Durchsetzung des aggressiv-mörderischen »Unternehmens Barbarossa« und des »Generalplans Ost« war kein »normaler« Krieg wie vorangegangene, sondern ein Krieg zwischen zwei Gesellschaftsordnungen und Weltanschauungen - der sozialistischen (kommunistischen) und einer kapitalistischen in Gestalt des deutschen Faschismus. Der von Deutschland ausgelöste Krieg zielte nicht nur auf die Eroberung von »Lebensraum«, sondern auch auf die Vernichtung des alternativen Gesellschaftssystems, im NS-Jargon: Bolschewismus. Zur Besonderheit dieses Kreuzzuges gehörte dessen Vermengung mit Rassenideologie. Denn er zielte auf die Vernichtung der Juden, Roma und Sinti wie auch auf die Ausrottung und Versklavung der slawischen Mehrheitsbevölkerung.
Bollinger macht auf ein weiteres wieder aktuell gewordenes Problem aufmerksam: In der klassischen Faschismusdefinition der Komintern von 1935 ist die rassistische Dimension für die Massenmobilisierung nicht nur in Deutschland unterbewertet worden, ebenso die Eigendynamik faschistischer Parteien: »Sie agierten eben nicht als Marionette des Finanzkapitals, sondern entwickelten durchaus eigene Vorstellungen und Handlungsweisen, denen sich auch das Kapital unterwerfen musste.« Auf der Basis gemeinsamer Interessen kam es zugleich zu einer »mustergültigen(n) Symbiose von Parteiaktivisten, Ministerialbürokratie, Militär und Großkapital«, die den Aggressionskrieg erst ermöglichte. Eine solche Sichtweise deckt das kapitalistische Wesen des Faschismus auf und entlarvt zugleich die Verlogenheit des Begriffes »Nationalsozialismus«. Der Faschismus bleibt eine gefährliche Abart des Kapitalismus.
Die Spaltung Deutschlands nach dem Krieg in Folge der globalen Systemkonfrontation bewertete Moskau als Misserfolg. Bollinger ist überzeugt, Stalin war an einem einheitlichen, neutralen und mit der Sowjetunion in Freundschaft verbundenen Deutschland interessiert. Der Kreml konnte sich letztlich aber nur auf den kleineren und schwächeren Teil des Landes stützen. Die Bundesrepublik wie die DDR wurden fest in den Einfluss- und Herrschaftsbereich der Weltmächte USA und UdSSR integriert. Die deutsche Zweistaatlichkeit verkörperte (neben Korea) den einmaligen Fall, dass sich die Klassenkonfrontation auf einem einst zusammengehörenden und nun geteilten Territorium staatlich organisiert fortsetzte. Die DDR war treuer Bundesgenosse der Sowjetunion, wichtiger wirtschaftlicher Partner und vorgeschobene Verteidigungslinie des östlichen Imperiums.
Dies änderte sich Mitte der 1980er Jahre. Moskaus nunmehrige Zuwendung zur ökonomisch stärkeren BRD erfolgte aus ureigenen sowjetischen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen, was sich für die DDR folgenschwer auswirken sollte. Unter Gorbatschow siegten die sowjetischen Machtinteressen gegenüber ideologischen Grundsätzen: »Die deutsche Einheit als Geschenk Moskaus wurde begierig ergriffen, mit falschen Versprechungen bei einer naiven sowjetischen Politik.«
Erst Wladimir Putin reagierte auf die für Russland katastrophale geopolitische Machtverschiebung und modelte den neoliberalen Kapitalismus in einen Staatskapitalismus um, verbunden mit einer »Rückbesinnung auf die nationalen Interessen Russlands und die Sicherung der dafür notwendigen Ressourcen«. Das vereinte Deutschland mit seinem ungebremsten neuen Selbstbewusstsein und europäischen Führungsanspruch steht wider eigenen Wirtschaftsinteressen an der Seite der von den USA angeführte Gegner des Wiederaufstieg der Großmacht im Osten, bedauert Bollinger und beschwört: »Rapallo war und ist der Weg.«
Stefan Bollinger: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen. Verlag am Park, Berlin 2016. 191 S., br., 14,99 €.
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