Problem XY ungelöst
Kassenärzte vermitteln seit drei Monaten dringliche Facharzttermine für Patienten
Barbara Borchardt aus Cottbus braucht dringend einen Termin bei einer Neurologin. Die 65-Jährige telefoniert mit mehreren Praxen. Neue Patienten werden leider nirgends angenommen. Beim letzten Versuch bebietet man ihr einen Termin im Frühjahr 2017 an. Die Sprechstundenhilfe ist erstaunt, als die Patientin ihn annimmt. Parallel dazu versucht Frau B., über die Kassenärztliche Vereinigung einen schnelleren Termin zu bekommen. »Haben Sie eine codierte Überweisung?«, wird sie am Telefon gefragt. Sie verneint und wird erneut zu ihrem Hausarzt geschickt. Man glaubt ihr nicht, dass sie diesen Termin wirklich braucht. Frau B. verzichtet auf den Service.
Seit dem Januar 2016 verpflichtet das Gesetz die 16 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), Terminservicestellen in jedem Bundesland einzurichten. Jetzt zog der Dachverband der Kassenärzte, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), eine Bilanz der ersten 100 Tage ihrer Terminservicestellen. Bilanziert wurden 31 500 gebuchte Termine. Angesichts von 550 Millionen Behandlungsfällen im Jahr hält KBV-Chef Andreas Gassen diese Zahl für »sehr gering«. Aus seiner Sicht wurde geliefert, obwohl die Kassenärzte den Service für überflüssig halten: Auch ohne diese Vermittlung gebe es dringliche Termine rechtzeitig, deshalb sei es nur logisch, dass bisher nur wenige vermittelt werden mussten.
Ganz anders interpretiert Florian Lanz vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die Zahlen: »Bei über zehntausend vermittelten Terminen pro Monat stellt sich die Frage nicht mehr, ob die Terminservicestellen eine sinnvolle Einrichtung sind. Die Ärzteorganisationen sind aufgefordert, das Problem der teilweise schleppenden Terminvergabe bei Fachärzten zu lösen statt es kleinzureden.«
Bei der genaueren Betrachtung der gemeldeten Zahlen erscheint es zumindest zweifelhaft, ob die KV sich ausreichend um den Service bemühen. Bei 33 bis 50 Prozent »nicht berechtigter Anfragen« scheint das Gros der Patienten eher unzureichend informiert - so fehlt etwa die Codierung auf der Überweisung, die eine Dringlichkeit belegt. Laut Gassen bekommen die Patienten diesen Code sofort von ihrem überweisenden Arzt auf den Schein geklebt.
Extra werben wolle man für den neuen Telefonservice nicht, die Versicherten müssten die Auskünfte auf den Webseiten der zuständigen KV selbst finden. Auf der KBV-Webseite fehlt der Hinweis auf die nötige Codierung völlig, ebenso auf der Seite der KV Mecklenburg-Vorpommern, auf der Seite der KV Berlin ist er vermerkt. Auch die Erreichbarkeitszeiten der Terminservicestellen lassen zu wünschen übrig: In Brandenburg sind es pro Woche zehn, in Mecklenburg-Vorpommern 16, in Sachsen-Anhalt 14 und im Saarland 15 Stunden. In Sachsen hingegen ist der Service über 20 Stunden pro Woche besetzt, in Hamburg sind es sogar 45 Stunden.
Nach KBV-Angaben haben in den ersten 100 Tagen des Bestehens der Terminservicestellen etwa 10 Prozent der 100 000 Arztpraxen in Deutschland freie Termine gemeldet. Warum diese sich die Mühe machten, bleibt rätselhaft. Gassen kann nicht ausschließen, dass die Meldungen von einigen Kassenärztlichen Vereinigungen extra honoriert werden. Das wäre allerdings nur aus dem Gesamttopf der Gelder möglich, die von den gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung gestellt werden, andere Mittel gibt es nicht.
Angesichts bereits existierender Angebote für eine Arztvermittlung bei allen größeren und einigen kleinen gesetzlichen Krankenkassen fragt es sich, ob die Stellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen überhaupt nötig sind, oder ob es sinnvoller gewesen wäre, das vorhandene Kassenangebot auszubauen. So aber entsteht eine Parallelstruktur, die aus den Beiträgen der gesetzlich Versicherten bezahlt wird. Dennoch begrüßt die Techniker Krankenkasse das ergänzende Angebot der KV, auch wenn sie den Service etwa seit acht Jahren selbst anbietet. Bisher wurden bei der Kasse etwa 100 000 Termine vermittelt, bei über 80 Prozent der Anfragen wurde nach eigenen Angaben der gewünschte räumliche und zeitliche Korridor der Versicherten eingehalten. Erreichbar sind die Callcenter der Krankenkasse 75 Stunden pro Woche. TK-Versicherte können zudem bei 5000 Ärzten ihren Termin selbst online buchen.
Bei einer deutlich kleineren Kasse, der Siemens-Betriebskrankenkasse, die heute einen großen Teil ihrer etwa einer Million Versicherten außerhalb des Konzerns hat, gibt es seit 2009 Unterstützung bei der Terminabsprache. Etwa 1200 Mal im Monat würde die Leistung in Anspruch genommen. Hier versuchen die Mitarbeiter sogar, einen Termin bei dem gewünschten Arzt zu bekommen, was die KBV für ihr neues Angebot strikt ablehnt.
Die Kassenärzte sind gesetzlich verpflichtet, die ambulante medizinische Versorgung der gesetzlich Versicherten zu gewährleisten, sie haben den sogenannten »Sicherstellungsauftrag«. Die Politik habe mit der Verpflichtung zur Einführung der Terminservicestellen gezeigt, dass sie »den Arztorganisationen nur noch bedingt zutraut, der Verantwortung in diesem Bereich gerecht zu werden«, urteilt Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband.
Für Patienten sind trotz zusätzlicher KV-Terminservicestellen zahlreiche Probleme ungelöst. Sie wissen weder, welcher Facharzt offene Termine hat, noch ob der gewählte Spezialist der geeignete für ihr Problem ist und gute Qualität in Diagnostik und Therapie sichert. Sie müssen den angebotenen Termin beim Arzt X oder Y annehmen - oder weiter allein suchen. Ein Fünftel derjenigen Patienten, die über den KV-Service einen Termin bekamen, nahmen diesen im übrigen nicht wahr.
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